Warum ich mich beinahe mit einem unglücklichen Leben zufrieden gegeben hätte

Es gibt ein Gefühl, dass seine Krallen ganz besonders tief in mich geschlagen hat: das Gefühl absolut wertlos zu sein. Lange Zeit hielt es mich vollends in seinem unablässigen Griff gefangen.

Die tiefgreifende Grundüberzeugung über meinen Wert hatte weitreichende Auswirkungen. Ich war unglücklich. Und beinahe hätte ich mich mit diesem Leben sogar zufrieden gegeben.

Was versteht man unter Selbstwertgefühl?

Selbstwertgefühl ist die grundlegende Einstellung, die wir gegenüber uns selbst hegen– positiv, negativ oder irgendwo dazwischen.

Unser Selbstwertgefühl spielt eine Rolle bei verschiedenen psychischen Störungen. Zum Beispiel sehen Menschen mit einer Depression sich in der Regel sehr negativ, während Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung ein übermäßig aufgeblasenes Selbstbild zeigen.

Ein gesundes Selbstwertgefühl zu besitzen bedeutet also nicht, sich als den bzw. die Größte zu betrachten. Es geht darum, sich selbst auf eine ausgewogene Weise einzuschätzen und sich dabei wertvoll zu fühlen – auch mit Macken.

Studien zeigen konsistent, dass Kinder alkoholkranker Eltern verglichen mit Kindern nicht-alkoholkranker Eltern zu einem geringeren Selbstwertgefühl neigen. Das erhöht das Risiko für die Entwicklung bestimmter psychische Störungen, wie Depressionen, und kann sogar den beruflichen Erfolg beeinflussen. Zudem wird mangelnder Selbstwert mit gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen und einer niedrigeren Beziehungszufriedenheit asoziiert. 

Nachdem ich über die Bedeutung des Selbstwertgefühls und dessen Einfluss auf die psychische Gesundheit nachgedacht habe, erkenne ich immer mehr, wie stark dieses Thema auch in meinem eigenen Leben präsent war. Doch lest selbst:

Wie mangelnder Selbstwert meine Partnerschaften beeinflusste

Mein mangelndes Selbstwertgefühl zeigte sich besonders stark in meinem Liebesleben. Eigentlich ging ich ausschließlich Beziehungen ein, die zum Scheitern verurteilt waren.

Ich fühlte mich zu Menschen hingezogen, die mir nicht die gleiche Zuneigung entgegenbrachten. Die meisten davon hatten bereits eine andere große Liebe: Suchtmittel.

Mit einem aktiv süchtigen Menschen kann man keine glückliche Beziehung führen. Trotzdem hielt immer ich mich für das Problem. Deshalb war ich auch dankbar für jedes bisschen Aufmerksamkeit.

Für jeden Fehltritt meines Partners gab ich mir die Schuld. Mit all meinen Päckchen hielt ich insgeheim mich für die Schwierige in der Beziehung. Ich war überzeugt, meinem Partner einfach zu viel abzuverlangen.

Ich strengte mich immer mehr an und bekam immer weniger. Gleichzeitig fehlte mir der Mut zu gehen. Denn seien wir mal ehrlich:

Wer könnte mich schon lieben?

Durch ihr verhalten bestätigten meine Partner mir diese Grundüberzeugung immer wieder. Und auf eine seltsame und verdrehte Art beruhigte mich das. Denn wir Menschen lieben es, in unseren Überzeugungen bestätigt zu werden. Selbst, wenn sie zutiefst ungesund sind.

Ich hielt mich für den schrecklichsten Menschen der Welt. Deshalb war ich auf Liebe von außen angewiesen. Dabei wäre ich damals überhaupt nicht in der Lage gewesen, eine gesunde Liebe auch anzunehmen.

Denn für jemanden, der in einer Welt voller Chaos aufwächst, kann die Ruhe einer gesunden Beziehung unerträglich sein.

Wie mangelnder Selbstwert meine beruflichen Entscheidungen beeinflusste

Mein niedriger Selbstwert zeigte sich auch in meinen beruflichen Entscheidungen.

Ich war der Traum eines jeden Arbeitsgebers. Die Arbeit ging immer vor. Meine Bedürfnisse kamen an zweiter Stelle. Widerworte meinerseits? Fehlanzeige. Auch dann nicht, wenn sie dringend angebracht gewesen wären.

Ich blieb in Berufen, für die ich überqualifiziert war, willigte ein, meine Arbeitsstunden zu reduzieren, damit mein Arbeitgeber die Krankenversicherung nicht finanzieren muss und ließ mich regelmäßig zu spät bezahlen.

Finanzielle Nöte standen an der Tagesordnung. Ich verdiente so wenig und so unzuverlässig Geld, dass ich mich trotz mehrerer Mini-Jobs kaum über Wasser halten konnte.

Dennoch suchte ich weder nach besseren Arbeitsstellen noch nach staatlicher Unterstützung. Ich war mir sicher, keinen Anspruch darauf zu haben.

Warum also noch mehr Zeit und Kraft verschwenden?

Wie mangelnder Selbstwert mein Studium beeinflusste

Mein niedriger Selbstwert machte auch vor meinem Studium nicht Halt.

Zum einen hatte ich als erste Studentin in der Familie keine Ahnung von den Abläufen und Prozessen an einer Universität. Diese besondere Art des Lernens war mir vollkommen unbekannt.

Aufgrund meines mittelmäßigen Abiturs fühlte ich mich meinen Kommiliton:innen zudem unterlegen. Bei jeder Veranstaltung war ich überzeugt davon, die mit Abstand dümmste Person im Raum zu sein.

Damit niemand meine Hochstaplerei erkannte lernte ich wie verrückt. Und das funktionierte.

Zumindest zunächst.

Meine Noten verbesserten sich stetig. Mit meine Gesundheit dagegen ging es kontinuierlich bergab. Denn für ein gutes Abschlusszeugnis ging ich über sämtliche meiner Grenzen hinaus.

Wohin mein mangelnder Selbstwert mich brachte

Mein Selbstwertgefühl war schon zu Beginn nicht besonders hoch. Das ebnete den Weg für meine wenig selbstfürsorglichen Entscheidungen. Je schlechter ich mich dabei behandeln ließ, umso überzeugter wurde ich davon, wertlos sein zu müssen.

Ich geriet in einen andauernden Selbstoptimierungswahn. Mich dafür zu akzeptieren, wer ich bin, kam mir nicht in denn Sinn.

Denn so würde mich ja niemals jemand für liebenswert halten.

Die ungesunden Beziehungen, die finanziellen Nöte, die vielen Nebenjobs und der Leistungsdruck im Studium führten letzlich dazu, dass es mit meiner Gesundheit weiter rapide bergab ging.

Irgendwann zerbrach ich unter all dem Druck. Und das war der Punkt an dem ich endlich die Reißleine zog. Ich begann eine Therapie.

Eine der besten Entscheidungen meines Lebens.

Dort lernte ich, dass ich ok bin, so wie ich bin – mit allen Schwächen und Stärken. Mir wurde klar, dass ich nicht daran arbeiten musste, immer klüger, gebildeter und stärker zu werden, sondern an meiner Selbstakzeptanz und daran, gesunde Grenzen zu ziehen.

Heute schaue ich mit Entsetzen auf meine damaligen Entscheidungen zurück. Beinahe hätte mein niedriges Selbstwertgefühl mich dazu gebracht, mich mit diesem unglücklichen Leben zufrieden gegeben.

Zum Glück habe ich es nicht.

Denn dann würde ich noch heute alles, auf das ich eigentlich Einfluss nehmen könnte, tatenlos hinnehmen.

Ich würde mit Sicherheit noch in einem unbefriedigendem Job feststecken, anstatt in einem Beruf zu arbeiten, in dem ich geschätzt und angemessen bezahlt werde.

Und vermutlich würde ich noch immer in einer unglücklichen Beziehung feststecken, statt mein Leben mit einem liebevollen, zugewandten Partner zu teilen.

Aus all dem habe ich mich heraus gekämpft indem ich anfing, mich selbst wie einen wertvollen Menschen zu behandeln. Denn Respekt findet erst Einzug in dein Leben, wenn du dich selbst respektvoll behandelst.

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