Shuggie Bain: eine Familiengeschichte über eine Familienkrankheit

Shuggie Bain von Douglas Stuart ist ein preisgekrönter Roman, der die zerstörerischen Folgen von Sucht in den 1980er-Jahren Schottlands eindringlich schildert – ein packendes und unvergessliches Leseerlebnis.

30.10.2024, 19:00 VON ALINA

Vor einigen Wochen bin ich zufällig auf das Buch Shuggie Bain von Douglas Stuart aufmerksam geworden. Obwohl der Erfolg des Romans für ziemliche Furore sorgte, war mir der Hype bis dahin völlig entgangen.

Ich war gerade auf der Suche nach einem neuen Buch, als ich über den Titel stolperte. Ich erfuhr, dass das Buch die Geschichte eines Kindes mit einer alkoholkranken Mutter erzählt. Daraufhin kaufte ich das Buch sofort.

Und meine Meinung dazu kann ich euch natürlich nicht vorenthalten. Hier ist also meine Shuggie Bain-Review.

Über Shuggie Bain

Zunächst einmal die Hard Facts: Shuggie Bain erschien erstmals am 11. August 2020 beim Verlag Grove Press in den USA. Die deutsche Übersetzung wurde im Jahr 2021 beim Hanser Berlin Verlag veröffentlicht. Shuggie Bain ist das erste Buch von Douglas Stuart. Es gewann viele Preise, darunter den Booker Prize 2020, einen der bekanntesten Literaturpreise der Welt.

Zusammenfassung der Handlung

Die Geschichte startet im tristen Glasgow der 80er Jahre. Agnes lebt gemeinsam mit ihren drei Kindern, zwei davon aus erster Ehe, und ihrem neuen Ehemann Hugh „Shug“ Bain im Stadtviertel Sighthill.

Sighthill, dessen Hochhaus-Scheibenblocks einst als modisch galten, hat seine besten Jahre hinter sich. Das Viertel ist zum „sink estate“ verkommen. Inmitten hoher Arbeitslosigkeitsraten, Kriminalität und Drogenmissbrauch zieht Agnes im Zuhause ihrer Eltern ihre eigenen Kinder groß.

Tristesse, scheinheiliger Katholizismus und Langeweile sind Agnes ständige Begleiter.

Es ist eine Welt, in die die unternehmungslustige, sich gegen den heuchlerischen Konservatismus wehrende Agnes so überhaupt nicht reinpasst. Agnes möchte ausbrechen, unbedingt anders sein.

Es sind unerfüllbare Wünsche.

Doch zum Glück gibt es ein Wundermittel, das all den Schmerz über Armut, Langeweile und die anhaltende Untreue ihres geliebten Big Shugs vertreibt: Special Brew.

Ja, Agnes ist bereits zu Beginn der Geschichte schwer suchtkrank.

Und während ihre ersten Kinder Alexander „Leek“ und Catherine alt genug sind, um ihrer unzurechnungsfähigen Mutter zumindest zeitweise zu entfliehen, ist der 5-jährige Shuggie ihren Stimmungsschwankungen völlig ausgeliefert.

Als Big Shug die Familie dann mit falschen Versprechungen in das postindustrielle Ödland des Kohledorfes Pithead verfrachtet und sich danach aus dem Staub macht, verliert Shuggie nicht nur seine letzten Bezugspersonen, seine Großeltern Lizzie und Wullie. Der Umzug treibt die Familie auch noch weiter in Armut und Isolation und erweist sich als Brandbeschleuniger für Agnes‘ Krankheit.

Ob es Leek, Catherine, Shuggie und sogar Agnes gelingen wird, sich aus den Fängen der Sucht zu befreien?

Die vielschichtigen Themen von Shuggie Bain

Shuggie Bain greift auf knapp 500 Seiten eine Vielzahl von gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Themen auf. Der Roman sorgt dadurch für eine Menge Gesprächsstoff, den ich hier kurz aufgreifen möchte.

Armut, Alkoholismus, soziale Isolation und Queerness

Shuggie Bain ist ein Roman, der tief in die Missstände der 1980er Jahre eintaucht und die harte Realität von Armut und sozialer Isolation schonungslos aufzeigt. Der allgegenwärtige Alkoholismus ist nicht nur Agnes’ Flucht vor der Realität, sondern auch ein Symbol für die zerstörerischen Kräfte, die ganze Familien auseinanderreißen können.

Denn entgegen dem, was der Titel vermuten lässt, dreht sich die Geschichte nicht hauptsächlich um Hugh „Shuggie“ Bain, sondern viel mehr um die gesamte Familie. Das passt zum Thema, das das Buch behandelt. Denn Alkoholismus ist eine Familienkrankheit (mehr dazu gleich).

Alle drei Kinder versuchen, auf ihre Weise mit dem Alkoholismus ihrer Mutter umzugehen: Leek, indem er sich unsichtbar macht. Catherine, indem sie anstrebt, so schnell wie möglich flügge zu werden. Shuggie wiederum möchte seine Mutter durch seine grenzenlose, bis zur Selbstaufopferung gehende Loyalität retten.

Agnes‘ Alkoholismus treibt die Familie immer weiter in die soziale Isolation. Insbesondere Shuggie, dessen „Andersartigkeit“ (sprich: Queerness) im Buch wiederholt aufgegriffen wird, wird zum Außenseiter. Shuggies zarte und sensible Natur, die im rauen und konservativen Schottland der 80er-Jahre als Schwäche angesehen werden, verleiht dem Roman eine weitere tiefgründige Ebene.

Neben den Sorgen, die er bezüglich seiner Mutter hegt, versucht er, einen Platz in einer Welt zu finden, die ihn nicht akzeptiert. Dadurch wird der Roman auch aus einer LGBTQ+-Perspektive zu einem interessanten Werk.

Mutter-Sohn-Beziehung und Parentifizierung

Ein Fokus der Geschichte liegt auf den verdrehten Eltern-Kind-Dynamiken, die durch Agnes‘ Suchterkrankung entstehen. Agnes hängt nicht nur von der organisatorischen, sondern auch von der emotionalen Unterstützung ihres Sohnes Shuggie ab, der weit über seine Jahre hinaus erwachsen werden muss.

Shuggie wird parentifiziert. Er übernimmt die Rolle des Erwachsenen, pflegt und beschützt seine Mutter, während er selbst emotional vernachlässigt wird. Diese Dynamik illustriert auf tragische Weise, wie Alkoholismus nicht nur das Leben der süchtigen Person selbst zerstört, sondern auch das der Menschen, die sie lieben.

Der Roman zeigt dadurch eindrucksvoll, warum Alkoholismus oft als Familienkrankheit bezeichnet wird. Der Erkrankung stoppt nicht bei den Konsument:innen, sondern hat massivste Auswirkungen auf alle anderen Familienmitglieder.

Stil und Sprache

Stuarts kraftvolle Sprache bringt das Elend und die Hoffnungslosigkeit der Figuren durch präzise Beschreibungen und stimmungsvolle Darstellungen eindringlich zum Ausdruck. Viele der Figuren sprechen im Dialekt, was die Geschichte noch authentischer macht (Leser:innen mit guten Englischkenntnissen empfehle ich daher, das Buch im Original zu lesen). Douglas Stuart schreibt mit einer Intensität und Emotionalität, die Leser:innen tief in die Welt von „Shuggie Bain“ hineinzieht.

Rezeption und eigene Meinung zum Buch

Shuggie Bain wurde von Kritikern und Lesern gleichermaßen hoch gelobt und gewann 2020 den renommierten Booker Prize, eine Auszeichnung, die das Buch in den literarischen Kanon der Gegenwart erhebt.

Die Kritiken betonen die authentische und einfühlsame Darstellung der Charaktere sowie die schonungslose Ehrlichkeit, mit der Stuart die Themen Armut, Sucht und Identität behandelt. Ich kann mich den Meinungen nur anschließen. Von der ersten Seite an hat mich die Geschichte von Shuggie Bain in ihren Bann gezogen.

Douglas Stuart ist es mit diesem Roman gelungen, ein vielschichtiges Portrait einer alkoholabhängigen Frau zu zeichnen, das in starkem Kontrast zu vielen anderen popkulturellen Darstellungen steht.

Denn die schöne Agnes Bain, die wiederholt mit Elizabeth Taylor verglichen wird, ist keine eindimensionale Figur, sondern eine komplexe und tragische Persönlichkeit. Sie ist eine auf ihre eigene Art und Weise kämpferische Frau. Als Leser:in bekommt man auch Einblicke in die Person gewährt, die sie außerhalb ihrer Suchterkrankung ist.

Unermüdlich versucht sie trotz aller Widrigkeiten den äußeren Schein zu wahren. Ihr starker Stolz und ihr Fokus auf ihr äußerliches Erscheinungsbild stehen in scharfem Gegensatz zur Realität ihres Lebens. Sie weigert sich, „arm auszusehen“ oder sich „arm zu kleiden“, um sich selbst zu legitimieren und sich von den anderen armen Nachbarn abzugrenzen.

Agnes‘ Versuch, den Schein nach außen zu wahren, ist auch deshalb so faszinierend, weil er die Erkrankung Alkoholismus so umfassend widerspiegelt: Verleugnung im Außen, während im Inneren alles zerfällt.

Hintergrund und Entstehung des Buches

Tatsächlich sind Douglas Stuarts Beschreibungen des Alltags mit einem suchtkranken Elternteil so erschreckend akkurat, dass sie in mir Unbehagen ausgelöst haben – was zweifellos mit seiner eigenen Lebensgeschichte zu tun hat.

Die Genauigkeit, mit der Stuart diese Figur beschreibt, lässt darauf schließen, dass er die Auswirkungen von Sucht und den daraus resultierenden familialen Dysfunktionen aus erster Hand kennt. Und das stimmt.

Denn Shuggie Bain basiert auf Douglas Stuarts eigenen Kindheitserfahrungen. Er wuchs in den 1970er und 1980er Jahren in ärmlichen Verhältnissen mit zwei älteren Geschwistern auf. Seine Mutter war eine alleinerziehende, alkoholkranke Frau. Der Charakter der Agnes Bain ist stark an sie angelehnt.

Als Stuart 16 Jahre alt war, starb seine Mutter schließlich an den Folgen des Missbrauchs. Nach ihrem Tod zog er nach London. Dort studierte er Mode und Textildesign. Bevor er sich dem Schreiben zuwandte, verfolgte er in New York eine erfolgreiche Karriere als Modedesigner.

Mein Fazit zu Shuggie Bain

Douglas Stuart’s Shuggie Bain ist ein wunderschöner, doch schmerzhafter Roman. Das Lesen katapultierte mich wiederholt in eigene Erfahrungen mit meiner suchtkranken Mutter zurück. Die Kraft des Romans liegt in den akkuraten Beschreibungen der Szenen, die man mit einem abhängigen Elternteil erlebt.

Für mich persönlich ist der Roman eine eindringliche und bewegende Darstellung der zerstörerischen Auswirkungen von Sucht. Besonders gelungen finde ich, wie Stuart Agnes als vielschichtigen Charakter darstellt – eine Frau, die in ihren nüchternen Phasen eine liebenswerte und fürsorgliche Mutter ist, aber in ihrer Sucht zur Gefahr für sich selbst und ihre Kinder wird.

Der Roman zeigt auf herzzerreißende Weise, wie dünn die Grenze zwischen Liebe und Selbstzerstörung sein kann, und wie sich Sucht wie ein Gift durch das Leben aller Beteiligten frisst.

Douglas Stuart schafft es, das Thema Sucht in all seiner Komplexität und Tragik darzustellen, was „Shuggie Bain“ zu einem unverzichtbaren Werk für jeden macht, der die dunklen Seiten des Lebens mit einem suchtkranken Elternteil verstehen will.

Quellen


Geschichte von Sighthill: Leslie, C. (o.D.).
Sighthill [Photographic Portfolio]. Disappearing Glasgow. Abgerufen am 16. August 2024.

Über Douglas Stuart: Alter, A. (23. Oktober 2020). How ‚Shuggie Bain‘ Became This Year’s Breakout DebutThe New York Times. Abgerufen am 16. August 2024.

Clark, Alex (22. November 2020). „Shuggie Bain’s tale tells us that the Booker prize has matured“The Guardian. Abgerufen am 24. November 2020.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert