Was dich nicht tötet, härtet dich ab. Das pflegte zumindest meine Mutter zu sagen. Sicherlich hätte sie niemals gedacht, dass ich diesen Spruch einmal auf sie münzen würde.
Das Ironische ist: Sie hatte Recht.
Denn um irgendwie mit ihrer Alkoholsucht klarzukommen, legte ich mir verschiedene Strategien und Eigenschaften zu, die heute verdammt hilfreich sind. Also danke dafür, Mama!
Einen Blick auf die positive Seite werfen
Eine Freundin aus Kindheitstagen sagte einst zu mir, dass es fast so schien, als hätte ich feine, unsichtbare Antennen, die jede noch so kleine Stimmungsveränderung im Raum wahrnehmen.
Und verdammt, hatte sie Recht. Die brauchte ich auch.
Denn diese Antennen sagten mir noch bevor ich beide Füße durch unsere Wohnungstür gesetzt hatte, was ich gleich zu erwarten hatte.
Wie ich, legen sich Kinder alkoholkranker Eltern als Reaktion auf den elterlichen Alkoholmissbrauch verschiedene Eigenschaften zu, um besser mit der unberechenbaren Situation zu Hause umgehen zu können.
Diese Verhaltensreaktionen sind oft dysfunktional. Doch anstatt immer alles schwarz zu malen, lasst uns unser kleines Kindheitstrauma doch einmal von der positiven Seite betrachten.
10 Verhaltensmuster, die uns richtig weit bringen
Elterlicher Alkoholmissbrauch schadet uns nicht zwangsläufig. Er kann auch eine Entwicklungsherausforderung für uns Kinder sein. Zumindest laut dem Challenge-Modell von Wolin & Wolin.
Demnach sind die schwierigen Situationen, mit denen Kindern alkoholkranker Eltern zu Hause konfrontiert werden, unter gewissen Umständen eine Training für unsere Belastbarkeit.
Wie sich herausgestellt hat, wachsen nämlich erstaunlich viele Kinder alkoholkranker Eltern zu stabilen und anpassungsfähigen Erwachsenen heran: In einer isländischen Langzeitstudie enwickelten sich viele Nachfahren von stationär behandelten Alkoholikern zu erfolgreichen und angesehenen Parlamentabgeordneten, Professoren, Rechtsanwälten und Pfarrern – Berufe, die ein hohes Energieniveau und ausgeprägte soziale Kompetenzen erfordern.
Denkt man einmal genauer darüber nach, ist das keine Überraschung. Wie mehrere Studien in den letzten 30 Jahren zeigten, sind viele unserer entwickelten Verhaltensmuster besonders im Beruflichen von großem Vorteil.
Hier sind also 10 Gründe, warum der Alkoholmissbrauch unserer Eltern eigentlich ein Segen ist.
1. Kinder alkoholkranker Eltern sind bereit, Verantwortung zu übernehmen
Während andere Gleichaltrige noch rundum von ihren Eltern versorgt wurden, kümmerten wir uns schon lange um unsere eigene Grundversorgung – und um die unsere Geschwister. Kurzum: Wir haben bereits früh gelernt, was es heißt, Verantwortung zu tragen. Ein jahrelanger Übungsvorsprung, der uns beruflichen Erfolg garantiert!
2. Kinder alkoholkranker Eltern sind zuverlässig, auch unter starker Belastung
Einen Nervenzusammenbruch bei Stress? Fehlanzeige! Im Gegenteil: Im Krisenmodus kommt unser Blut erst so richtig in Wallung! Katastrophenstimmung fühlt sich für uns irgendwie beruhigend vertraut an und spornt uns zu Höchstleistungen an.
3. Kinder alkoholkranker Eltern besitzen Kompetenz im Umgang mit Problemen und Risiken
Erst wer in Krisen einen kühlen Kopf bewahrt sieht klar, findet passende Lösungen für Probleme und erkennt dabei mögliche Risiken.
4. Kinder alkoholkranker Eltern sind in der Lage, auch chaotische Situationen zu meistern
Chaotisch, chaotischer, Sucht-Haushalt. Als Kind alkoholkranker Eltern hat man viel Übung im Umgang mit chaotischen Situationen – und auch darin, diese zu meistern.
5. Kinder alkoholkranker Eltern sind einfühlsam
Um uns für das unberechenbare Verhalten unserer Eltern zu wappnen, entwickeln wir eine dicke Portion Einfühlsamkeit. Denn nur wer sensibel für die Stimmungen anderer ist, kann diese auch einschätzen. Das macht uns später nicht nur zu guten Freund:innen, sondern eignet uns auch prima für helfende Berufe.
6. Kinder alkoholkranker Eltern sind hilfsbereit
Als Kind alkoholabhängiger Eltern wissen wir, wie es sich anfühlt, hilflos zu sein. Das macht uns empathisch für die Bedürfnisse anderer. Wir erkennen, wenn Hilfe gebraucht wird und sind mehr als bereit, diese anzubieten.
7. Kinder alkoholkranker Eltern sind zuverlässig und haben ein Organisationstalent
Wer bei dem ganzen Trubel zu Hause noch irgendetwas zu Ende bringen will, muss sich organisieren. Egal wie voll der Terminkalender, egal, wie viele Verpflichtungen wir haben: Wir kriegen es irgendwie unter einen Hut und stehen pünktlich auf der Matte.
8. Kinder alkoholkranker Eltern sind kreativ
Als Kind alkoholkranker Eltern muss man des Öfteren Initiative ergreifen und Ideen für die Herausforderungen zu Hause entwickeln. Das macht uns erfinderisch im Umgang mit komplexen Problemen. Ein Soft Skill, von dem wir ein ganzes Leben profitieren.
9. Kinder alkoholkranker Eltern sind unabhängig
Wer als Kind mit den Herausforderungen eines Sucht-Haushalts konfrontiert ist, wird schnell selbstständig. Wir kommen in jeder noch so großen Krise irgendwie klar, denn wer das überstanden hat, übersteht auch alles andere. Wir wissen außerdem, dass wir immer mindestens eine Person an unserer Seite haben, auf die wir uns verlassen können: uns selbst.
10. Kinder alkoholkranker Eltern sind zielorientiert
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, verfolge ich mein Ziel kompromisslos. Dieser Dickschädel hat mich bisher überall hingebracht – beruflich wie privat.
Die Kehrseite der Medaille
Mit diesen 10 Verhaltensmustern können wir es weit bringen. Unter einer Bedingung: Achtsamkeit. Denn sie sind nur dann hilfreich, wenn wir dabei einfühlsam mit uns selbst umgehen.
Zielstrebig- und Zuverlässigkeit bringen uns nichts, wenn wir dabei über unsere Grenzen hinaus gehen. Na ja, außer vielleicht Depressionen, Angststörungen und Gefühle der andauernden Überforderung natürlich. Einfühlsamkeit und Hilfsbereitschaft bringen uns nichts, wenn wir nicht einfühlsam mit uns selbst umgehen.
Wer im Chaos erst so richtig aufblüht, wer stress- und hektikreiche Situationen aufsucht, macht dies vielleicht auch, um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen.
Ins Denken oder Fühlen zu kommen kann für erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern ziemlich schmerzhaft sein. Zumindest war es das für mich. Deshalb habe ich alles Erdenkliche getan, um davon abzulenken.
Die Rechnung dafür war hoch.
Doch ich habe daraus gelernt und bin ganz nach dem Challenge-Modell daran gewachsen. Und jetzt, wo ich weiß, wie ich diese alten Verhaltensmuster in einem sinnvollen Maß einsetze, sind sie so etwas wie meine geheime Superpower geworden.
Hätte ich mir meine Kindheit anders ausgesucht, wenn ich könnte? Mit Sicherheit. Andererseits wäre ich ohne die Suchterkrankung meiner Mutter heute nicht der Mensch, der ich bin. Mit all meinen Schwächen und Stärken.
Leider kann man sich sein Schicksal nicht aussuchen. Man kann aber wählen, was man damit macht. Und ich entscheide mich heute dafür, mich auf das Positive zu konzentrieren.