Auf Instagram und TikTok teilt Melanie unter dem Namen „co(un)abhängige Tochter“ offen ihre Erfahrungen als Kind einer alkoholabhängigen Mutter. Im Interview mit mir spricht sie darüber, wie es war, mit einem suchtkranken Elternteil aufzuwachsen, und wie sie sich aus ihrer Co-Abhängigkeit befreite.
30.07.2024, 19:00 VON ALINA
Erzähl mir davon, wann und wie du auf die Idee gekommen bist, einen Instagram-Account zu gründen.
Nachdem ich angefangen hatte, offener über das Thema Co-Abhängigkeit zu sprechen und lange darüber reflektiert habe, wollte ich das unbedingt mit anderen teilen. Die Idee, meine Erfahrungen über eine Plattform weiterzugeben, schwirrte schon länger in meinem Kopf herum, aber irgendwie fehlte mir der Anstoß. Ich wollte mir auch gut überlegen, ob ich mit diesem Thema wirklich an die Öffentlichkeit gehen will. Auch wenn ich das Gefühl habe, schon viel reflektierter und gefestigter zu sein, spielen Angst und Schuldgefühle immer noch eine Rolle. Schließlich wurde der Drang so groß, dass ich mich entschloss, die Seite co(un)abhängig zu starten. Das Feedback, sowohl von Bekannten als auch von Betroffenen, war wirklich unglaublich toll. Das hat mich sehr bestärkt und dann auch motiviert, eine TikTok-Seite zu machen.
Stell dir einmal vor, du würdest jemandem, der keine Ahnung von dem Thema elterliche Suchterkrankung hat, erklären, wie es sich für ein Kind anfühlt.
Es ist ein bisschen wie eine Achterbahnfahrt. Es gibt Höhen und Tiefen. Man will helfen und irgendwann merkt man, dass man gar nicht helfen kann. Man muss mit ansehen, wie ein geliebter Mensch tief fällt und man leidet selbst sehr darunter. Dabei leidet man unter Schuldgefühlen, wenn man nichts tut, und unter Frustration und Wut, wenn man „hilft“ und die Hilfe nicht zur Besserung beiträgt. Oft genug hat man gehofft, dass der Klinikaufenthalt diesmal funktioniert. Oft genug wurde diese Hoffnung enttäuscht. Man fühlt sich für die Situation verantwortlich und gerät dadurch in ein Abhängigkeitsverhältnis.
Erzähl mir von deiner Kindheit.
An meine Kindheit habe ich viele schöne Erinnerungen. Aber ich erinnere mich auch daran, dass meine Mutter oft traurig war. Als Kind kann man das nicht so genau einordnen. Man merkt, dass etwas nicht stimmt, aber niemand sagt oder erklärt einem, was wirklich los ist. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation, in der ich mit Mama auf dem Sofa saß und wir beide geweint haben. Ich wusste nicht, warum.
Erst viel später habe ich auch verstanden, dass sie trinkt, wenn sie allein ist. Wenn sie also allein in der Küche war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, wusste ich, dass sie trinkt. Am schlimmsten war es aber dann in Wien, als ich zu studieren begann. Meine Mutter wohnte eine Zeit lang in derselben Straße wie ich und in dieser Zeit fühlte ich mich besonders verantwortlich.
Das Schlimmste für mich war dabei die Ungewissheit. Nicht zu wissen, was passiert ist, wenn ich ein paar Tage nichts von ihr gehört habe. Oder wenn sie zum Beispiel gesagt hat: „Sie will nicht mehr“ und dann nicht mehr erreichbar war. Eine Zeit lang bin ich dann immer sofort hingefahren, weil mir die Situation so Angst gemacht hat und ich sonst ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Genau diese Gefühle, die ich in solchen Momenten auf dem Weg zu meiner Mutter hatte, habe ich in meiner Kurzgeschichte Flaschenpost und hohe Rösser verarbeitet.
Wie bist du als Kind mit der Suchterkrankung deiner Mutter umgegangen?
Als Kind hat mich das alles ziemlich verwirrt. Es gab eben auch Phasen, die gut und schön waren. Ich kann manchmal gar nicht genau sagen, wie alt ich war, als ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass es meiner Mutter nicht gut geht. Manchmal war sie sehr traurig und dann war ich auch traurig. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Auch darüber, was passieren würde, wenn andere von ihrem Zustand erfahren würden, als sie anfing zu trinken. Sie zog sich abends gerne zurück, und später fand ich heraus, dass sie in solchen Situationen trank. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine Flasche in den Supermarkt zurückgebracht habe. Später wurde sie trotzdem gekauft. Noch viel später habe ich Flaschen geleert – ohne Erfolg.
Konntest du damals mit jemandem über die Suchterkrankung reden?
Darüber wurde lange Zeit nicht gesprochen, obwohl viele davon wussten. Man kann es sich vielleicht wie ein Familiengeheimnis vorstellen, über das in der Familie nicht gesprochen wurde. Vielleicht auch, weil alle Angst vor den Konsequenzen hatten, die ein offenes Gespräch und Transparenz mit sich bringen würden. Denn dann wird es „real“. Es wurde viel getan, um die Situation zu „schützen“. Erst jetzt weiß ich, dass es besser gewesen wäre, früher darüber zu reden. Erst als eine Eskalation auf die andere folgte, war es unumgänglich, darüber zu sprechen.
Lass uns einmal über deinen Umgang mit dem Thema heute als Erwachsene reden. Was sind die dominantesten Gefühle, die du deiner Mutter gegenüber empfindest und wie gehst du mittlerweile mit der Suchterkrankung deiner Mutter um?
Ich bin sicher, dass ich eine ganze Reihe von Gefühlen durchlebt habe. Der Prozess, sich aus der Co-Abhängigkeit zu befreien, verläuft auch nicht linear, sondern hängt von der eigenen Stimmung ab. Es gibt auf jeden Fall viele Auslöser, die einem im Laufe der Jahre immer bewusster werden. Früher war ich oft sehr wütend und traurig. Manchmal bin ich das immer noch, aber mittlerweile bin ich eher resigniert. Man wird mit der Zeit ein bisschen „abgebrüht“ – das ist sicher ein Selbstschutz. Mittlerweile kann ich meine Gefühle etwas besser benennen und Grenzen setzen.
Was ist die größte Stärke, die du aus deiner herausfordernden Kindheit, Jugend und jungen Erwachsenenjahren mitgenommen hast? Bist du daran auch gewachsen?
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich daran gewachsen bin. Ich bin damit aufgewachsen. Ich habe auch keinen Vergleich, weil ich nicht weiß, wie es anders gewesen wäre, wenn meine Mutter gesund gewesen wäre. Man versucht aus einer beschissenen Situation das Beste zu machen und das habe ich immer versucht. Wenn mein offener Umgang mit dem Thema dazu führt, dass mehr über Sucht und Co-Abhängigkeit gesprochen wird, dann ist das für mich ein Erfolg.
Auf Instagram und TikTok nennst du dich co(un)abhängige Tochter. Wie genau machst du dich frei von deiner Co-Abhängigkeit?
Ich bin vor kurzem aus beruflichen Gründen nach Belgien gezogen, was es natürlich einfacher macht, Grenzen zu setzen. Dadurch, dass man physisch nicht direkt verfügbar ist, entsteht auch eine gewisse emotionale Distanz. Es bleibt etwas mehr Zeit für die schönen Dinge, die man sich dann auch gerne am Telefon erzählt. Ob Aktivismus, Reisen oder Schreiben – ich versuche, mir mein Leben so schön wie möglich zu machen und mich auf meine Träume und Projekte zu konzentrieren. Dabei bin ich mir auch bewusst, dass ich im Vergleich zu anderen Betroffenen ein Privileg habe.
Kinder suchtkranker Menschen haben ein erhöhtes Risiko, ebenfalls an einer Abhängigkeit zu erkranken. Wie ist dein Verhältnis zu Alkohol?
Ich habe vor etwa einem Jahr aufgehört, Alkohol zu trinken, und für mich persönlich war das eine sehr wichtige Entscheidung. Natürlich hat das einerseits mit der Familiengeschichte und meiner Mutter zu tun. Aber das allein hätte mich nicht vom Trinken abgehalten, obwohl es das vielleicht hätte tun sollen. Vielmehr habe ich selbst zu oft Grenzen überschritten und mich im Nachhinein für mein Verhalten im Rausch geschämt.
Ich weiß, dass wir das nicht gerne hören, und es muss nicht zwingend sein, dass jedes Kind eines alkoholkranken Elternteils selbst ein Alkoholproblem entwickelt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist leider relativ hoch. Deshalb ist es wichtig, auf das eigene Trinkverhalten zu achten und Warnsignale frühzeitig zu erkennen. Filmrisse, aber auch das Gefühl, ohne Alkohol keinen Spaß mehr haben zu können, sind solche Warnsignale.
Ich weiß auch, wie schwierig das in unserer Gesellschaft ist. Wenn man in bestimmten gesellschaftlichen Situationen keinen Alkohol trinkt, gerät man schnell in eine Rechtfertigungsposition, weil viele einfach nicht verstehen können, wie man nicht trinken kann. Alkohol ist eine gesellschaftlich akzeptierte und allgegenwärtige Droge. Deshalb ist es nicht einfach, abstinent zu bleiben, aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es lohnt sich.
Welchen Rat möchtest du betroffenen Kindern und erwachsenen Kindern geben?
Ich kann nur aus Erfahrung sprechen. Es wird mit der Zeit leichter, weil man so viel lernt. Mir hat es sehr geholfen, offen darüber zu reden. Sowohl in der Familie als auch mit anderen Betroffenen. Wenn mehr Leute offen darüber reden, ist das Thema Co-Abhängigkeit nicht mehr so tabuisiert und man fühlt sich nicht mehr so allein damit. Bei mir hat es auch sehr lange gedauert, aber im Nachhinein wünsche ich mir sogar, dass ich früher damit angefangen hätte.
Ich habe auch gelernt, dass ich nichts zur Verbesserung der Situation beitrage, wenn ich in schlechten Phasen „hinfahre“, um mich zu kümmern. Unzählige Male habe ich den Notruf gewählt, nur damit meine Mutter nach einer Viertelstunde im Krankenhaus wieder entlassen wurde und zu Hause weiter trinken konnte. Ich habe gelernt, dass man eine Person sehr lieben kann und dennoch manchmal auf Abstand gehen und Grenzen setzen muss, um die eigene psychische Gesundheit zu schützen. Ich weiß, es ist leichter gesagt als getan, aber ich verspreche dir, dass es eines Tages Sinn machen wird: Stelle deine eigenen Bedürfnisse an die erste Stelle.
Das Interview mit Melanie zeigt, wie tief die Auswirkungen der Suchterkrankung eines Elternteils in das Leben eines Kindes eingreifen. Trotz aller Herausforderungen hat sie Wege gefunden, um offen mit ihrer Geschichte umzugehen und anderen Betroffenen Mut zu machen. Ihr Instagram-Account „co(un)abhängig“ bietet eine wertvolle Plattform für den Austausch und die Unterstützung für diejenigen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, also schaut unbedingt mal vorbei! Ich wünsche ihr auf ihrem Weg nur das Allerbeste.
Hinterlasse einen Kommentar und teile deine Gedanken oder eigene Erfahrungen!