Alkohol ist in Deutschland allgegenwärtig. Ein Blick in die Statistiken zeigt jedoch die fatalen Folgen des Konsums auf. Warum es Zeit für eine kritische Reflexion ist und wie die Sober Curiosity-Bewegung besonders Kindern suchtkranker Eltern dabei helfen kann, erfahrt ihr hier.
20.09.2024, 19:00 VON ALINA
Als Kind einer alkoholkranken Mutter war meine Beziehung zu Alkohol noch nie normal. Von der völligen Verteufelung in meiner Teenager-Zeit bis hin zum regelmäßigen Rauschtrinken als Studentin habe ich viele Stadien möglicher Konsumformen durch.
Ehrlich gesagt fehlte mir lange Zeit jegliche klare Vorstellung davon, was als „normaler“ Alkoholkonsum anzusehen ist. Doch je länger ich mich mit dem Thema Sucht auseinandersetze, desto klarer wird mir, dass man dafür nicht das Kind suchtkranker Eltern sein muss.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Rauschtrinken im Studium als Teil der studentischen Erfahrung gelebt wird, in der Alkohol bei keinem Event fehlen darf und der bei Partys förmlich als „soziales Gleitmittel“ missbraucht wird, um möglichst schnell seine gehemmte Stimmung loszuwerden – und wer nicht mittrinken will, muss sich oftmals dafür rechtfertigen.
Umso wichtiger ist es, dass in den letzten Jahren eine Bewegung entstanden ist, die diese Haltung gegenüber Alkohol stark hinterfragt: die Sober Curious-Bewegung.
Sober Curiosity: alles was du darüber wissen musst
Sober Curiosity ist ein englischer Begriff und lässt sich etwa mit ‚Neugier auf Nüchternheit‘ übersetzen. Das fasst den Trend auch schon ganz gut zusammen.
Die Sober Curious-Bewegung fordert dazu auf, den eigenen Alkoholkonsum kritisch zu reflektieren und einen alkoholfreien Lebensstil auszuprobieren – und zwar nicht, weil man so knietief in einer Abhängigkeit steckt, dass man abstinent leben muss, sondern weil man neugierig auf die positiven Auswirkungen eines alkoholfreien Lebens blickt.
Es geht darum, Alternativen zur traditionellen Trinkkultur zu finden. Wie man diese Haltung schlussendlich umsetzt, ist jedem selbst überlassen.
Manche lassen den Alkohol für immer weg, manche für eine Zeit. Wieder andere, so wie ich, trinken nur sehr wenig und entscheiden bewusst, zu welcher Gelegenheit sie Alkohol wirklich konsumieren möchten.
Der Trend ist übrigens noch ziemlich neu. Der Begriff wurde im Jahr 2019 von Ruby Warrington geprägt, die in ihrem Buch Sober Curious sowohl ihre eigene als auch die gesellschaftliche Beziehung zu Alkohol genau unter die Lupe nimmt.
Warum die Sober Curiosity-Bewegung so wichtig ist
Der Konsum von Alkohol stellt einen bedeutenden Risikofaktor für eine Vielzahl von chronischen Krankheiten dar, darunter Krebs, Lebererkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sowie für Unfälle.
Dennoch schreibt das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) auf seiner Seite:
„In der Gesellschaft herrscht eine weitgehend unkritische Einstellung zum Konsum von Alkohol vor“.
Pro Kopf konsumiert die Bevölkerung pro Jahr rund zehn Liter reinen Alkohol. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Drittel. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland auf Platz 4.
Demgegenüber stehen alarmierende Zahlen der epidemiologischen Suchtsurvey 2021, einer vom BMG geförderten bevölkerungsrepräsentativen Erhebung: Der Umfrage zufolge liegt bei etwa 9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland ein problematischer Alkoholkonsum vor.
7,9 Millionen Menschen nehmen Alkohol in einer gesundheitsschädlichen Form zu sich, d. h. sie überschreiten die von Experten als riskant angesehenen Grenzwerte. Für Frauen sind das 12 Gramm Reinalkohol und für Männer 24 Gramm – täglich.
Um das Ganze etwas anschaulicher zu machen: Bei 12 Gramm handelt es sich um ein Standardglas. Diese Menge findet man in einem kleinen Bier, einem Achtel Wein, einem Glas Sekt oder einem doppelten Schnaps. 24 Gramm sind dementsprechend 2 Standardgläser.
Wird dieser Wert überschritten, bedeutet das übersetzt also, dass 9,4 Prozent der deutschen Bevölkerung täglich mehr als ein (für Frauen) bis zwei Gläser (für Männer) Alkohol konsumieren.
Ein problematischer Alkoholkonsum ist unter anderem deshalb bedenklich, weil er zu einer Abhängigkeit führen kann. Hierzulande leiden darunter 1,6 Millionen Menschen. Allein im Jahr 2016 starben rund 62.000 Personen durch die Folgen des Konsums.
Das macht rund 14 Prozent aller Todesfälle aus.
Kinder verlieren durch die Substanz ihre Eltern. Partner:innen ihre Lebensgefährt:innen. Und die volkswirtschaftlichen Kosten, die dadurch entstehen, belaufen sich jährlich auf etwa 57 Milliarden Euro.
Es wird also höchste Zeit, unsere Haltung als Gesellschaft gegenüber Alkohol zu hinterfragen.
Eine Alternative für erwachsene Kinder suchtkranker Eltern
Für Kinder suchtkranker Eltern ist die Sober Curious-Bewegung von enormer Bedeutung, da sie als Höchstrisikogruppe für eine Alkoholabhängigkeit gelten, mit einem vierfach erhöhten Risiko im Vergleich zu anderen Gruppen.
Dieses erhöhte Risiko lässt sich zum Teil durch genetische Veranlagungen und belastende Kindheitserfahrungen erklären. Ein weiterer Faktor ist, dass sie einen bewussten und gesunden Umgang mit Alkohol oft nie gelernt haben, da ihnen ein entsprechendes Vorbild fehlte.
Aus diesem Grund ist es für sie von entscheidender Bedeutung, ihren Umgang mit der Substanz regelmäßig kritisch zu hinterfragen. Obwohl ein vollständiger Verzicht auf Alkohol zweifellos der sicherste Weg ist, um einer Abhängigkeit vorzubeugen, scheuen viele vor dem in unserer Gesellschaft als drastisch angesehenen Schritt.
Die Sober Curious-Bewegung bietet für uns daher eine attraktive Alternative. Sie schafft den Raum für eine bewusste, neugierige Herangehensweise an den Nicht-Konsum, ohne uns den Zwang des kompletten Verzichts aufzuerlegen.
Das Wort zum Abschluss
Die Sober Curious-Bewegung bietet eine alternative Perspektive zum traditionellen Umgang mit Alkohol, indem sie zur kritischen Reflexion ermutigt und einen bewussten Umgang fördert.
Eine besondere Stärke dieser Bewegung liegt mit Sicherheit darin, dass ihr Hauptfokus viel mehr als bei anderen Bewegungen darauf liegt, einem alkoholfreien Leben mit Neugierde und Interesse zu begegnen.
Im Gegensatz zu rigiden Ansätzen, die einen ultimativen Verzicht fordern, ohne Raum für Zwischentöne zu lassen, ermutigt die Sober Curious-Bewegung dazu, einem alkoholfreien Lebensstil mit Neugier zu begegnen.
Damit erreicht sie womöglich auch Menschen, die sich von strikten Vorgaben abgeschreckt fühlen und nach einem flexibleren Weg suchen.
Für erwachsene Kinder suchtkranker Eltern bietet sie in meinen Augen besonders bedeutende Unterstützung, indem sie Raum für eine gesündere Beziehung zum Alkohol schafft und den Druck zum kompletten Verzicht mindert.
Und, neugierig geworden? Dann probiert es aus. Es lohnt sich!
Habt ihr euren Alkoholkonsum schon einmal kritisch hinterfragt? Lasst es mich doch in den Kommentaren wissen!
Quellen
Sober Curiosity: Nullprozente. (o. D.). Die Sober Curiosity Bewegung. Abgerufen am 08. August 2024, from https://nullprozente.com/blogs/news/die-sober-curiosity-bewegung
Epidemiologische Suchtsurvey: Bundesgesundheitsministerium. (n.d.). Epidemiologischer Suchtsurvey (ESA) 2021. Abgerufen am 8. August 2024, von https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/epidemiologischer-suchtsurvey-esa-2021
Alkoholverbrauch im Europavergleich: Statista. (2024). Pro-Kopf-Verbrauch von reinem Alkohol in ausgewählten Ländern Europas. Abgerufen am 8. August 2024, von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1193702/umfrage/pro-kopf-verbrauch-von-reinem-alkohol-in-ausgewaehlten-laendern-europas/
Todesfälle: Kenn dein Limit. (o.D.). Alkoholkonsum in Deutschland. Abgerufen am 8. August 2024, von https://www.kenn-dein-limit.de/alkoholkonsum/alkoholkonsum-in-deutschland/#:~:text=Im%20Jahr%202016%20starben%20nach,zweith%C3%A4ufigste%20Hauptdiagnose%20in%20deutschen%20Krankenh%C3%A4usern.
vierfach höheres Suchtrisiko: NACOA Deutschland. (o. D.). Wichtige Fakten. Abgerufen am 08. August 2024. from https://nacoa.de/sites/default/files/images/stories/pdfs/neu/Wichtige%20Fakten.pdf
Was ist ein Standardglas: Kenn dein Limit. (o.D.). Häufige Fragen zum Thema Alkohol. Abgerufen am 08. August 2024, from https://www.kenn-dein-limit.de/haeufige-fragen-zum-thema-alkohol/#:~:text=Was%20ist%20ein%20Standardglas%3F,oder%20einem%20doppelten%20Schnaps%20enthalten.
Alkoholkonsum, Todesfälle & Kosten in Deutschland: Bundesgesundheitsministerium. (o.D.). Alkohol. Abgerufen am 8. August 2024, von https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/a/alkohol
Alkoholabhängigkeit in Deutschland: Bundesgesundheitsministerium. (o. D.). Sucht und Drogen. Abgerufen am 8. August 2024, von https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/sucht-und-drogen
Hallo Alina, Danke für den Anfang!
Zum Thema „von Experten als riskant angesehenen Grenzwerte“. Da wird sich meist auf die langjährige WHO-Definition von 12 bzw. 24 Gramm reinen Alkohol gleich zwei bzw. eine kleine Portion pro Tag als noch akzeptabel bezogen. Die ist aber inzwischen überholt und lautet nun ganz klar, dass es gar keine gesundheitlich unbedenkliche Menge gibt. https://www.who.int/europe/de/news/item/28-12-2022-no-level-of-alcohol-consumption-is-safe-for-our-health
Lieber Guido,
danke für den Hinweis 🙂 werde bei Gelegenheit nochmal drüber schauen und korrigieren.
Liebe Grüße,
Alina