Wer am Boden liegt, den tritt man nicht. Das weiß man schon als Kind. Dabei scheinen wir erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern jedoch eine Ausnahme zu machen, nämlich bei uns selbst. Doch aus welchen Gründen machen wir das? Und ist etwas Selbstkritik wirklich so schlecht?
Das Konzept des Selbstmitgefühls
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Selbstkritik zur Selbstoptimierung
Wer nicht streng zu sich selbst ist, wird niemals etwas erreichen. Denn ein zu freundlicher Umgang mit sich selbst macht faul – und das bringt uns in ganz schön unangenehme Situationen! Es wäre einfach zu peinlich, sich einen groben Patzer zu erlauben oder schlecht vorbereitet auf einem wichtigen Termin aufzukreuzen.
Ohne eine ordentliche Portion Selbstkritik besteht die Gefahr, dass man nicht hart genug arbeitet und die eigenen Fehler nicht erkennt. Mit Selbstkritik motiviert man sich also zur stetigen Selbstverbesserung. Wie sonst findet man auf dieser Welt einen Ort, an dem man von anderen geschätzt, oder sogar geliebt, wird?
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Selbstkritik als Bestrafung für schlechtes Verhalten
Schon als Kind wird man für Fehlverhalten bestraft. Als Erwachsene übernehmen wir das dann selbst.
Wenn man sich wieder einmal vor dem Sport gedrückt, schon wieder zu viel Geld ausgegeben oder sich zu ungesund ernährt hat, sollte man sich nicht auch noch mit freundlichen Worten betüddeln. So wird man nervige Eigenschaften und Angewohnheiten doch niemals los – oder?
Wir glauben, wir brauchen Selbstkritik, damit wir uns nicht gehen lassen. Doch die Vorstellung in einer Welt zu leben, in der man es nur mit permanenter Selbstbemängelung zu etwas bringen kann, ist nicht nur sehr trist, sondern auch falsch. In einem vergangenen Beitrag schrieb ich bereits, dass wir für die eigene Heilung Selbstmitgefühl brauchen.
Die Forschung zeigt: Mit Selbstkritik schaden wir uns. Der permanente Druck, dem wir uns aussetzen, löst starken Stress bei uns Menschen aus – und das wiederum führt auf Dauer zu Depressionen.
Wenn die Eltern Alkoholiker sind, kann das unsere Neigung zur Selbstkritik erhöhen
Natürlich ist jeder Mensch hin und wieder einmal selbstkritisch. Forscher:innen vermuten jedoch, dass selbstkritisches Verhalten durch gewisse Umstände gefördert wird.
Jemand, der von anderen oft kritisiert wurde, übernimmt womöglich deren Perspektive. Man behandelt sich also selbst so, wie man von anderen behandelt wurde.
Eine Untersuchung von Baldwin and Holmes (1987) zeigte außerdem, dass man selbstkritischer wird, wenn man sein Umfeld als wenig unterstützend wahrnimmt.
Selbstkritik kann auch ein Schutzmechanismus sein, weil es zu gefährlich wäre, die eigentlichen Täter oder Täterinnen (z.B. einen gewalttätigen Partner oder emotional missbräuchliche Eltern) zu kritisieren.
Selbstkritik kann auch die Unfähigkeit ausdrücken, mit der eigenen Wut umzugehen. Macht man als Kind beispielsweise die Erfahrung, dass der Ausdruck von Wut zum Liebesentzug der Eltern führt, wird das Gefühl Wut irgendwann auch mit Angst verknüpft. Als erwachsene Person fühlt man sich in Konfliktsituationen dann vielleicht ängstlich statt wütend – und reagiert mit Selbstbeschuldigungen, ganz unabhängig davon, ob diese angebracht sind oder nicht (Anm.: Diese Aufzählung ist nicht vollständig. Einen Überblick findet ihr hier).
Wenn die Eltern Alkoholiker sind, erlebt man solch selbstkritikauslösende Situationen womöglich eher. Denn Studien zeigen, dass selbstkritische Menschen oft aus dysfunktionalen Familien kommen.
Die permanente Selbstkritik von uns erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern kann sich zu einem regelrechten Selbsthass entwickeln, so dass viele kein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen.
Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern berichten insgesamt von mehr Stresserlebnissen und weniger vorhandenen Bewältigungsstrategien, also Fähigkeiten zum Umgang mit herausfordernden Situationen. Eine mögliche Bewältigungsstrategie ist Selbstmitgefühl.
Wie Selbstmitgefühl helfen kann, wenn die Eltern Alkoholiker sind
Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas, erforscht das Thema Selbstmitgefühl seit vielen Jahren. Sie selbst bezeichnet sich als „Selbstmitgefühl-Evangelistin“.
Für sie ist ein freundlicher und wohlwollender Selbstumgang der Schlüssel für psychische Gesundheit. Dabei unterscheidet sie drei Bestandteile: Selbst-Freundlichkeit, das Gefühl für die gemeinsame Menschlichkeit und Achtsamkeit.
Selbstliebe bedeutet, freundlich und sanft mit sich umzugehen – auch, oder ganz besonders, in schwierigen Zeiten.
Mit Einsicht in die eigene Menschlichkeit ist das Wissen gemeint, dass wir Menschen alle etwas gemeinsam haben: Wir sind nicht perfekt. Somit sind wir auch niemals allein mit den Herausforderungen, die wir erleben.
Achtsamkeit wiederum hilft uns, uns auf die Gegenwart zu konzentrieren und führt dazu, uns besser akzeptieren zu können. Und zwar so wie wir sind.
Es gibt mittlerweile eine große Anzahl an Studien, die nahelegen, dass Selbstmitgefühl und psychische Gesundheit miteinander Hand in Hand gehen. Eine aktuelle Doktorarbeit von Jessica E. Kuehne (2022) liefert sogar erste Hinweise darauf, dass Selbstmitgefühl die Widerstandsfähigkeit stärken kann, wenn die Eltern Alkoholiker sind. Demnach können erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern durch Selbstmitgefühl besser mit Depressionen, Angstzuständen oder Bindungsängsten umgehen.
Selbstmitgefühl macht uns also nicht schwächer. Im Gegenteil: Es macht uns widerstandsfähiger. Denn durch einen liebevollen Umgang mit uns selbst, fühlen wir uns auch in herausfordernden Zeiten sicher und getröstet. In diesem Zustand können wir unser Bestes geben.
Sei also auf keinen Fall nett zu dir selbst! Es sei denn, du willst, dass es dir gut geht. In diesem Fall kannst du dir nach dem nächsten sprichwörtlichen Sturz auf die Nase doch einfach mal selbst die Hand reichen. Ich meine, hey, jeder von uns stolpert doch mal!