Alles, was ich euch erzähle, ist eine Lüge. Oder könnte es zumindest sein. Denn die Forschung über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, ist oft nicht repräsentativ, veraltet und widersprüchlich.
Im zweiten Teil meiner 3-teiligen Serie erkläre ich, was an der Forschung über erwachsene Kinder mit alkoholabhängigen Eltern problematisch ist, welches Wissen als gesichert gilt und warum wir dennoch ein bisschen genauer hinschauen müssen.
Das Problem mit der Forschung über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben
Im Jahr 2000 warf Stephanie Lewis Harter mit ihrer Übersichtsarbeit einen genauen Blick den Forschungsstand zu erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern. In ihrer Untersuchung begutachtete sie wissenschaftliche Arbeiten, die zwischen 1988 und dem Erscheinungsjahr ihres eigenen Berichts veröffentlicht wurden.
Ihre Schlussfolgerungen waren enttäuschend: Obwohl es durchaus Anzeichen für Besonderheiten bei erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern gab, blieben etliche Fragezeichen bestehen.
Einige Studien brachten Unterschiede zwischen erwachsenen Kindern mit alkoholabhängigen Eltern und anderen Gruppen ans Licht, doch gleichzeitig stieß man auf viele Untersuchungen, in denen keine bedeutsamen Abweichungen nachgewiesen wurden.
Dieses Ergebnis könnte sich entweder daraus ergeben haben, dass wirklich keine Unterschiede bestehen – oder aus der Tatsache, dass viele der untersuchten Studien gravierende Schwachstellen aufweisen.
Eine dieser Schwachstellen ist, dass nur wenige Studien auf umfassende Designs setzen, die neben elterlichem Alkoholmissbrauch weitere Faktoren untersuchen, die zu den Problemen, die Kinder mit alkoholabhängigen Eltern im Erwachsenenalter haben, beitragen könnten.
Es ist schwer, die Vielzahl der widersprüchlichen Untersuchungen zu einem Gesamtbild zu vereinen. Deshalb werfen wir heute einen Blick darauf, welches Wissen als gesichert gilt – und betrachten dabei auch einmal den Kontext ganz genau.
Merkmale von erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern
Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, haben das Risiko, sich im Erwachsenenalter mit einer ganzen Menge Probleme herumzuschlagen. Diese Probleme müssen jedoch nicht zwangsläufig durch den Alkoholkonsum ausgelöst werden.
Kinder alkoholkranker Eltern sind nicht nur der elterlichen Sucht ausgesetzt, sondern auch eher von Gewalt, Missbrauch und familiärer Dysfunktion betroffen. Um passende Lösungen zu finden, ist es wichtig zu verstehen, wodurch sich die Probleme am besten erklären lassen und wie sie miteinander in Verbindung stehen. Und genau das versuchen wir jetzt.
Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, entwickeln später selbst Substanzprobleme
Studien zeigen insgesamt, dass Kinder mit alkoholabhängigen Eltern ein höheres Risiko haben, Probleme im Umgang mit Alkohol und Drogen zu entwickeln. Sie weisen einen tendenziell höheren Alkoholkonsum auf und nutzen diesen in problematischer Weise. Bei der Bewältigung von Stress setzen sie häufig auf Alkohol als Ventil und erhoffen sich positive emotionale Effekte aus diesem Konsumverhalten.
Einige Studien haben gezeigt, dass erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern selbst nach Berücksichtigung anderer familiärer Probleme, wie eine generelle Dysfunktionalität, immer noch ein höheres Risiko für Drogenmissbrauch aufweisen. Es wurde auch untersucht, ob die Wirkungen von elterlichem Alkoholismus bei Männern und Frauen unterschiedlich sind, aber dazu gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse und die Ergebnisse sind nicht eindeutig.
Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, neigen zu Verhaltensauffälligkeiten
Umfangreiche Studien, die über die Untersuchung von Student:innen hinausgehen, haben gezeigt, dass Menschen aus Familien mit alkoholkranken Eltern tendenziell zu verstärkter Impulsivität und antisozialem Verhalten neigen. Erstaunlicherweise bleibt dieser Trend sogar bestehen, wenn Faktoren wie weitere elterliche psychische Erkrankungen oder Kindesmissbrauch berücksichtigt werden.
Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, leiden häufiger unter Depressionen
Über verschiedene Studien mit unterschiedlichen Stichproben hinweg hat sich gezeigt, dass Personen, deren Eltern mit Alkoholproblemen zu kämpfen haben, im Erwachsenenalter eher Anzeichen von Depressionen aufweisen als jene, deren Eltern keine solchen Probleme haben.
Die Verbindung zwischen elterlichem Alkoholismus und Depressionen ist jedoch äußerst komplex. Hierbei könnten diverse Faktoren eine Rolle spielen, wie beispielsweise genetische Veranlagung, das Vorhandensein von Depressionen bei den Eltern, Überlappungen mit Angstsymptomen, familiäre Bindungen, traumatische Erfahrungen, Kindesmissbrauch und individueller Alkoholkonsum.
Wenige Studien haben bisher all diese Faktoren umfassend berücksichtigt. Es scheint jedoch, dass das Vorhandensein anderer psychischer Störungen bei den Eltern maßgeblich zur Erklärung des vermeintlichen Zusammenhangs beitragen könnte. Familienkonflikte und Kindesmissbrauch könnten ebenfalls mit den Depressionen bei den Betroffenen verknüpft sein.
Erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern leiden öfter unter Angststörungen
Insgesamt zeigen Menschen aus Familien mit alkoholkranken Eltern tendenziell vermehrt Anzeichen von Angststörungen, insbesondere wenn man spezifische Ängste wie zwischenmenschliche Ängste näher betrachtet. Es ist möglich, dass nicht primär der Alkoholismus der Eltern, sondern vielmehr weitere psychische Störungen bei den Eltern zu diesen Ängsten beitragen. Auch familiäre Herausforderungen und Kindesmissbrauch könnten eine Rolle spielen. Um hier ein genaueres Verständnis zu erlangen, bedarf es komplexerer Forschungsansätze.
Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern sind belastet und fehlangepasst
Ein Blick durch das Kaleidoskop der Forschung über erwachsene Kinder mit alkoholabhängigen Eltern
In einer Welt, in der Forschung oft im Schatten von Ungewissheit und Widersprüchen steht, bleibt auch die Ergründung der Auswirkungen erwachsener Kinder alkoholkranker Eltern von dieser Unsicherheit nicht verschont. Ähnlich wie bei den variierenden Facetten eines Kaleidoskops zeigen sich in den Studien unterschiedliche Aspekte, die es schwierig machen, ein klares Bild zu zeichnen.
Dennoch birgt die Betrachtung dieser vielschichtigen Forschungslandschaft wertvolle Einsichten. Die Tatsache, dass das Leben von Kindern von der Sucht ihrer Eltern geprägt sein könnte verdeutlicht die Notwendigkeit einer differenzierten Herangehensweise. Die Komplexität dieses Themas erinnert uns daran, dass einfache Antworten selten die ganze Wahrheit widerspiegeln.
Während die Forschung nach wie vor Rätsel aufgibt, bleibt eine Sache unbestreitbar: Kinder, die in Familien mit alkoholkranken Eltern aufwachsen, tragen eine Last, die über die Schwelle der Wissenschaft hinausgeht. Unsere Verantwortung ist es, aufmerksam zuzuhören, Empathie zu zeigen und Ressourcen bereitzustellen, um diese Last gemeinsam zu mildern.
Indem wir uns dem komplexen Mosaik der Forschung und der Realität dieser Kinder zuwenden, können wir dazu beitragen, ein klareres Bild zu zeichnen – eines, das von Unterstützung, Mitgefühl und Verständnis geprägt ist. Denn hinter den unklaren Schleiern der Forschung stehen reale Leben, die unser Engagement verdienen – für eine Zukunft, die auf Resilienz und Wohlbefinden aufbaut.
Hast du persönliche Erfahrungen gemacht mit einem der Themen, die in dem Blogbeitrag angesprochen werden? Wie gehst du damit um? Lass es mich in den Kommentaren wissen!
Quelle
Harter, S. L. (2000). Psychosocial adjustment of adult children of alcoholics. Clinical Psychology Review, 20(3), 311–337. doi:10.1016/s0272-7358(98)00084-1