„Für Kinder aus suchtbelasteten Familien geht es ständig um Leben und Tod“


Rund 3 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in suchtbelasteten Familien auf – ein Leben geprägt von Unsicherheit, Angst und oft lebenslangen Folgen. Stephan Kosch von NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. berichtet über die Arbeit des Vereins für die vergessenen Kinder und über die Herausforderungen, die noch zu bewältigen sind.

Herr Kosch, können Sie uns einen Überblick darüber geben, was NACOA ist und welche Mission die Organisation verfolgt?

Stephan Kosch: NACOA steht für National Association for Children of Addiction, also sinngemäß Nationale Vereinigung für Kindern von Suchtkranken. Die NACOA-Geschichte begann 1983 in den USA, 1990 folgte die Gründung von NACOA in Großbritannien, NACOA Deutschland startete vor genau 20 Jahren mit seiner Arbeit.

Alle nationalen Organisationen arbeiten unabhängig voneinander, sind aber vereint in ihrem Ziel, die Situation der Kinder und Jugendlichen, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, zu verbessern. In Deutschland sind das etwa drei Millionen.

Dazu bringen wir das oft tabuisierte Thema in die Öffentlichkeit, arbeiten als Lobbyisten in der Politik, informieren und vernetzen pädagogische und medizinische Fachkräfte, bieten eine Online-Beratung und ein Präventionsprogramm für Kitas an.

Zudem arbeiten wir auch für die rund sechs Millionen Erwachsenen, die mit suchtkranken Eltern aufgewachsen sind und oft noch Jahrzehnte später unter den gemachten Erfahrungen leiden.

Welche Herausforderungen und Belastungen können Kinder suchtkranker Eltern typischerweise erleben?

Stephan Kosch: Um es mal etwas drastisch auszudrücken: Für Kinder aus suchtbelasteten Familien geht es ständig um Leben und Tod – mit Blick auf das Leben des suchtkranken Elternteils, aber auch mit Blick auf das eigene Leben.

Eine Kindheit im Schatten elterlicher Sucht ist gekennzeichnet von einer Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an Zuwendung und Geborgenheit. Häufig kommen Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch hinzu.

Das hat oft lebenslange Beeinträchtigungen zu Folge. Wer in einer suchtbelasteten Familie aufwächst, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, eine psychische Krankheit zu entwickeln.

Etwa ein Drittel der Betroffenen wird selber suchtkrank, ein weiteres, das teilweise mit dem ersten Drittel überlappt, entwickelt andere psychische oder soziale Störungen.

Nur eines von drei Kindern kommt mehr oder weniger unbeschadet davon.

Wie beeinflusst die Suchterkrankung eines Elternteils das Leben eines Kindes, sowohl emotional als auch praktisch?

Stephan Kosch: Kinder aus suchtbelasteten Familien lernen in ihren Familien traumatische Erlebens- und Verhaltensmuster, welche Claudia Black, eine Pionierin in dem Feld, schon 1981 auf den Punkt gebracht hat: „Don’t talk, don’t trust, don’t feel“.

Im Mittelpunkt steht der kranke Elternteil und seine Sucht, um seine Bedürfnisse kreist die Familie, auch das Kind ordnet sich diesen unter. Es entwickelt Strategien, um dem Elternteil zu helfen. Das nennt sich Parentifizierung.

Manchmal greift es aber auch auf diese Verhaltensweisen zurück um sich und andere in der Familie vor Gewalt und unkontrolliertem Verhalten zu schützen. Doch egal wie einschneidend die Erfahrungen oft sind – nur selten wird das Kind darüber reden.

Denn Sucht ist eine stigmatisierte Krankheit, und um den Kranken und seine Familie vor diesem Stigma zu schützen, gilt ein Schweigegebot – oft auch innerhalb der Familie.

Die Folgen für das Kind: Der Kontakt zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen kann abbrechen, die Familie isoliert sich und nach Außen wird eine Scheinwelt aufgebaut.

Beim Versuch, zu helfen, geht das Kind über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus. Gleichzeitig entstehen Scham und Schuldgefühle, weil suchtkranke Eltern oft ihre Kinder für ihre Sucht verantwortlich machen. Das alles kann lebenslange Auswirkungen haben.

Perfektionismus, ständiges Überschreiten der eigenen Grenzen, das Ausrichten auf die Bedürfnisse andere und das Vernachlässigen der eigenen sind Verhaltensmuster, die in späteren Jahren oft zu Depressionen, Burn-Out und anderen psychischen Störungen führen.

Welche Art von Unterstützung bietet NACOA Kindern suchtkranker Eltern und ihren Familien an?

Stephan Kosch: Als direkte Hilfe unsere Online-Beratung, die wir gemeinsam mit KidKit in Köln zum Beispiel unter Hilfen im Netz anbieten. In Einzel- oder Gruppenchats, aber auch per Telefon können Kinder, Jugendliche und Erwachsene Hilfe und Informationen erhalten.

Wer Hilfe vor Ort sucht, kann Anlaufstellen über eine Landkarte auf unserer Website finden. Auf unserer Website „Trau Dir“ finden sich Informationen in jugendgerechter Form, so zum Beispiel Comics, die klassische Rollenverhalten von Kindern aus suchtbelasteten Familien beschreiben.

Mit unserem Projekt Fluffi Klub bieten wir Kitas ein Programm zur Prävention und Resilienzförderung an, das sich sowohl an Kinder, Eltern und Erzieher:innen richtet.

Zudem bieten wir Informationsmaterial für Profis in Kita und Schule, in der Jugendhilfe und im Gesundheitswesen an, denn noch fehlt das Thema in den Ausbildungsplänen. Sensibilisierte Fachkräfte können eine entscheidende Rolle im Leben eines betroffenen Kindes oder Jugendlichen spielen.

Und dann ist da noch das wichtige Arbeitsfeld Öffentlichkeitsarbeit.

Öffentlichkeitsarbeit ist ein gutes Stichwort. Welche Rolle spielen Bewusstsein und öffentliche Aufklärung in Ihren Augen und welchen Beitrag leistet NACOA diesbezüglich?

Stephan Kosch: Sucht ist ein schambesetztes und tabuisiertes Thema, weil sie in den Augen vieler noch immer nicht als Krankheit, sondern als Charakterschwäche gilt. Zudem wird Sucht zu Unrecht vor allem als Thema von prekären Milieus behandelt und dargestellt.

Dieses Stigma trifft auch die Angehörigen und besonders die Kinder, denen oft ein Schweigegebot auferlegt wird. Doch wenn sie nicht sprechen dürfen, wollen wir es tun. Wir wollen den oft vergessenen Kindern eine Stimme in der Öffentlichkeit geben.

Etwa durch die jährliche COA-Aktionswoche, in der wir bundesweit zu Veranstaltungen zum Thema aufrufen und selber welche durchführen. Insgesamt fanden so in den letzten Jahren in der Februarwoche rund um den Valentinstag über 100 Veranstaltungen statt, entsprechend viele Berichte brachten unser Thema in die Presse, bis hin zur 20 Uhr-Tagesschau.

Aber auch durch Social Media-Kampagnen und unsere Präsenz auf Instagram, Youtube und Facebook sorgen wir für Information und Vernetzung. Wir vermitteln erwachsene Kinder an Medien, die dort in Interviews Auskunft über ihre Erfahrungen geben.

Wir haben selber mittlerweile mehrere Dutzend Interviews mit Betroffenen und anderen Expert:innen zum Thema geführt und auf unserem YouTube-Kanal veröffentlicht.

Wir haben eine Foto-Wanderausstellung zum Thema erstellt, die im Februar erstmalig präsentiert und bereits in sieben Städten gezeigt wurde.

Und zum Glück haben wir mit Max Mutzke einen populären Schirmherren, der mit einer alkoholkranken Mutter aufwuchs und offen über diese Erfahrungen spricht.

Haben Sie den Eindruck, dass das Thema Kinder suchtkranker Eltern im öffentlichen Diskurs genug vertreten wird?

Stephan Kosch: Klare und einfache Antwort – nein. Es gibt noch viel zu tun.

Wie können Freunde, Familienmitglieder und andere Personen im Allgemeinen dazu beitragen, Kinder suchtkranker Eltern zu unterstützen?

Stephan Kosch: In der Familie selbst ist es eine große Chance, wenn es einen gesunden Elternteil gibt, der so weit es geht für Normalität sorgen kann. Dazu muss er sich aber in der Regel Hilfe holen, was auch für ihn ein Bruch des Schweigegebots bedeutet.

Aber auch, wer nicht direkt mit den Betroffenen zusammenlebt, kann eine wertvolle Hilfe sein. Als erstes gilt: Aufmerksam sein und die Aufmerksamkeit dem Kind vermitteln!

Für das Kind einfach da zu sein und zuzuhören, ist bereits ein großes Geschenk. Denn genau diese Aufmerksamkeit geht ja im Nebel der Sucht verloren.

Dem Kind zeigen, dass man sich dafür interessiert, wie es ihm geht, vielleicht Ausflüge anbieten oder gemeinsame Aktionen mit anderen Kindern – COAs (Anm. d. Red.: Children of Addicts) profitieren von allem, was ihnen ermöglicht, einfach nur Kind zu sein, ausgelassen spielen zu können sowie Sicherheit zu erfahren und um eine Anlaufstelle zu wissen.

Alles andere kann sich dann entwickeln, vielleicht aber auch nicht. Weitere Informationen findet man auf unserer Website.

Wurden in den letzten Jahren Fortschritte in Bezug auf die Unterstützung von Kindern suchtkranker Eltern erzielt?

Stephan Kosch: Fortschritte gab es, etwa in Mecklenburg-Vorpommern, wo durch Mittel des Europäischen Sozialfonds mehr Anlaufstellen für Betroffene Familien geschaffen werden.

Auf Bundesebene wurden erste von insgesamt 19 Forderungen einer vom Bundestag eingesetzten Arbeitsgruppe namens AG KiPKE, an der auch NACOA Deutschland beteiligt war, umgesetzt.

Unter anderem entstand das dort geforderte bundesweite Online-Beratungsangebot. Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ebenfalls eine Kommunikationsplattform geschaffen.

Doch noch gibt es viele Forderungen, die der Umsetzung harren.

Welche Herausforderungen bestehen weiterhin?

Stephan Kosch: Hoffnung gab ein interfraktioneller Antrag, den die Ampelkoalition und die Unionsfraktionen diesen Sommer eingebracht haben, mit dem Ziel, die Situation von Kindern sucht- und psychisch kranker Eltern zu verbessern. Was nun nach dem Bruch der Ampelkoalition daraus wird, bleibt abzuwarten, zumal die Umsetzung unter Finanzvorbehalt steht.

Und damit ist ein seit langem bestehendes Hauptproblem angesprochen. Es gibt in Deutschland gerade einmal rund 200 Einrichtungen, die sich um Kinder aus suchtbelasteten Familien kümmern – viel zu wenige. Diese sind zudem meist projektfinanziert und wissen oft nicht, ob ihre Anträge erneut bewilligt werden.

Für Kinder, die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in ihrem Leben vermissen, ist das ein fatales Signal. Für die Mitarbeitenden ebenso. Wir brauchen viel mehr solcher Anlaufstellen, in jeder Kommune eine, und diese müssen dauerhaft finanziert werden.

Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, das Stigma zu verringern, das mit elterlichen Suchterkrankungen verbunden ist, um so eine unterstützende Umgebung für betroffene Kinder schaffen?

Stephan Kosch: Man kann es nicht oft genug sagen: Sucht und ihre Folgen müssen entstigmatisiert werden, deshalb haben wir 2022 unsere Aktionswoche auch unter das Motto #SCHLUSSMITDEMSTIGMA gestellt. Nur so können betroffene Eltern und ihre Angehörigen offener mit dem Thema umgehen und sich Hilfe holen.

Die Menschen in Ihrem Umfeld, wie etwa Lehrer:innen, Sporttrainer:innen, Ärzt:innen, müssen durch Aus- und Fortbildung sensibilisiert werden und gegebenenfalls an Einrichtungen vermitteln, die Hilfe bieten.

Wie wir das schaffen? Reden, reden, reden- immer wieder auch öffentlich.

Geschichten veröffentlichen von Menschen, die in suchtbelasteter Famililie aufgewachsen sind, von Menschen, die über ihre Suchterkrankung reden.

Und wir müssen die Darstellung von Sucht in den Medien hinterfragen.

Es geht eben nicht nur um verwahrloste Menschen im fleckigen Unterhemd im Plattenbau, sondern auch um den koksenden Banker im Maßanzug, die pegeltrinkende Politikerin oder den Lehrer, der Haus und Hof im Online-Casino verspielt.

Welche Botschaften möchten Sie betroffenen Kindern und Jugendlichen mitgeben?

Stephan Kosch: Dein Vater oder Deine Mutter ist krank, nicht böse. Aber Du bist nicht Schuld an der Sucht.

Du bist nicht alleine, auch wenn Du Dich oft so fühlst. Wir sind Millionen. Und es gibt viele Menschen, die verstehen können, was Du durchmachst.

Du musst das nicht alleine tragen, Du darfst Dir Hilfe holen, auch wenn der Suchtkranke das verbietet. Das Schweigegebot brechen ist kein Verrat, es ist der erste wichtige Schritt der Hilfe hinaus dem Schatten der Sucht.

Versuche immer wieder herauszutreten aus dem Dunstkreis der Sucht, such Dir etwas, dass Dir Spaß macht, Sport, Musik, Theater, irgendein Ehrenamt – egal. Hauptsache, Du spürst Dich und vielleicht auch die Gemeinschaft mit anderen.

Und: Du kannst ein wunderbares Leben führen, trotz des Rucksacks auf Deinen Schultern.

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