Probieren statt Ignorieren: 6+ Strategien für einen besseren Umgang mit deinen Gefühlen

Mein Verhältnis zu meinen Gefühlen ist kompliziert. Einerseits habe ich sie mittlerweile als wichtigen Botschafter meines Wohlbefinden akzeptiert. Doch auch heute noch werde ich manchmal völlig von meinen Gefühlen überwältigt.

In der Vergangenheit fühlte sich das oftmals an, wie ein Tornado, der nichts als Zerstörung hinterlässt. Zum Glück habe ich mittlerweile ein paar Wege gefunden, den Sturm gekonnt zu umschiffen. Und die möchte ich heute mit euch teilen.

Meine Erfahrungen

Ich war schon immer ein gefühlsbetonter Mensch. Als Kind alkoholkranker Eltern ist das nicht unbedingt ein Vorteil. Meine emotionalen Reaktionen wurden häufig heruntergespielt oder als übertrieben abgetan, vor allem wenn es um die Alkoholsucht meiner Mutter ging.

„Du bist zu empfindlich.“

Das ist ein Satz, den ich nicht nur einmal zu hören bekam. Es ist ein Satz mit fatalen Folgen.

Denn bis heute fällt es mir schwer, mich auf meine eigene emotionale Reaktion als gültige Interpretation von Ereignisse zu verlassen. Ich weiß einfach nicht, ob meine Gefühle der Situation angemessen sind.

Erst wenn ich Freund:innen von meinem Erlebnis erzähle, kann ich mir diese Frage anhand ihrer Reaktion beantworten. In gewisser Weise sind sie der Spiegel, an dem ich die Angemessenheit meiner Emotionen messe.

Doch ich kämpfe noch mit einer weitaus belastenderen Schwierigkeit. Ich werde manchmal regelrecht von meinen Gefühlen überwältigt.

Besonders in herausfordernden Situationen macht sich meine innere Anspannung ohne Vorwarnung mit einem Schlag so intensiv bemerkbar, dass kein bisschen Raum mehr für anderes ist.

Dann implodiere ich.

Ich falle in mich zusammen wie ein Kartenhaus. Nach außen mag es kaum sichtbar sein, doch in mir tobt ein Sturm.

Ich bin überfordert. Meine Anspannung steigt ins unermessliche und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Und was zurück bleibt, ist unglaubliche Erschöpfung. Jeder dieser Anfälle fühlt sich an, als hätte ich eben den Mount Everest bestiegen. Ich verfalle in eine Spirale aus Selbstvorwürfen:

Warum habe ich es so weit kommen lassen? Warum habe ich mich nicht besser im Griff?

Und damit scheine ich nicht allein zu sein. Auch wenn die Forschung hierzu noch in den Kinderschuhen steckt, gibt es erste Hinweise darauf, dass Kinder alkoholkranker Eltern ungünstige Strategien wie Grübeln im Umgang mit ihren Gefühlen anwenden.

In der Psychologie nennt man dies Emotionsregulation.

Definitionen

Emotionen sind unsere Reaktionen darauf, was Personen oder Objekte in uns auslösen. Dabei ist es egal ob sie real oder vorgestellt sind. Bei der Emotionsregulation handelt es sich also um den Prozess, durch den wir das Erleben, die Intensität, die Dauer, den Zeitpunkt und den Ausdruck von den aktivierten Emotionen beeinflussen.

Es gibt eine Vielzahl von Strategien, durch die wir Einfluss auf unsere Emotionen nehmen können, die man grob in gut angepasste und schlecht angepasste Strategien einteilen kann. Hier sind einige davon:

Adaptive Strategien:

  1. Problemorientiertes Handeln: aktive Handlungen, um die negative Situation zu verändern oder zu beenden.
  2. Akzeptanz: offene, wertfreie und einladende Haltung gegenüber den eigenen Gefühlen, Gedanken oder äußeren Ereignissen.
  3. Kognitives Problemlösen: gedankliche Auseinandersetzung mit dem Problem, um eine Lösung zu finden.
  4. Umbewerten: der aktive Versuch, die Bedeutung oder Relevanz eines Ereignisses zu verändern, zum Beispiel indem man einen wenig hilfreichen Gedanken durch einen nützlicheren ersetzt.
  5. Stimmung anheben: der Versuch, die eigene Stimmung aufzuhellen, z.B. durch das Hören von Musik.
  6. Vergessen: das normale Vergessen von alltäglichen unangenehmen Ereignissen.

Maladaptive Strategien

  1. Sich zurückziehen
  2. Sich selbst abwerten
  3. Aufgeben
  4. Wiederholt und unflexibel an sich wiederholenden Gedanken festhalten (z.B. Grübeln)
  5. Situationen katastrophisieren, indem man das Negative im übertriebenem Ausmaß wahrnimmt
  6. Anderen die Schuld zuweisen

6 Wege, nicht mehr von Gefühlen überwältigt zu werden

Viele dieser Emotionsregulationsstrategien haben wir in unserer Kindheit gelernt. Sie laufen automatisch ab. Das bedeutet zum Glück nicht, dass sie unveränderbar sind.

Unsere Gefühle gehen mit körperlichen, verhaltensbezogenen und erlebnisbezogenen Veränderungen einher. Das sind auch die Ebenen auf denen wir aktiv Einfluss auf unsere Gefühle nehmen können.

Körperbezogene Strategien

Emotionen gehen in der Regel mit körperlichen Veränderungen einher. Sind wir gestresst, schüttet der Körper z.B. Adrenalin und Kortisol aus. Diese körperliche Erregung, und auch die damit einhergehende starke emotionale Reaktion, können wir abbauen.

Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten:

Ihr könnt die körperliche Erregung abbauen, indem ihr (1) starke Gegenreize über eure Sinne setzt, z.B. indem ihr in eine Chili beißt, Wasabipaste oder sehr saure Kaugumis esst, einen Igelball über eure Haut rollt oder eiskalt duscht.

Werdet kreativ und experimentiert ein bisschen, was genau euch hilft. Wichtig ist, dass der Reiz stark, aber nicht selbstverletzend ist.

Auch jede Art von (2) Bewegung hilft euch, körperliche Anspannung abzubauen. Geht Joggen, rennt die Treppe hoch und runter, bis ihr nicht mehr könnt oder schlagt in ein Kissen. Auch hier ist eurer Phantasie keine Grenze gesetzt.

Haut euch eure Kopfhörer in die Ohren, macht es euch gemütlich und spielt auf Spotify oder Youtube eine (3) Entspannungsübung ab. Die Auswahl ist groß.

Es gibt Atemübungen, Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Imagionationsübungen und Phantasiereisen. Geht auf die Suche! Findet heraus, was euch am besten runter bringt.

Verhaltensbezogene Strategien:

Lebt man seine Gefühle immer gleich ungehemmt aus, können zwischenmenschliche Beziehungen schaden nehmen. Geigt man z.B. seine:r Partner:in im Streit einmal so richtig die Meinung, kann man das im Nachhinein ziemlich bereuen.

Eine Möglichkeit diesem Handlungsimpuls entgegenzuwirken ist stattdessen genau das (4) entgegengesetzte Verhalten zu zeigen. Ist man z.B. wütend und will die andere Person verbal angreifen, macht man stattdessen also etwas freundliches oder zieht sich einfach zurück.

Das fühlt sich natürlich nicht richtig an, führt aber nachgewiesenermaßen dazu, die (womöglich unangemessen) starke emotionale Reaktion abzuschwächen.

Gedankliche Strategien:

Zwei verschiedene Menschen können vollständig unterschiedlich auf das gleiche Erlebnis reagieren. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass unsere Gefühle nicht durch ein Ereignis an sich entstehen, sondern durch die Bewertung des Ereignisses.

Durch gedankliche Strategien beeinflussen wir also, wie wir Situationen interpretieren. Auch hierfür gibt es verschiedene Herangehensweisen.

Der sogenannte (5) Stuhldialog eignet sich besonders gut, wenn in uns widersprüchliche Gefühle toben. Ein verlustängstlicher Mensch kann z.B. einerseits immer wieder nach Bestätigung suchen und gleichzeitig wissen, dass seine Angst übertrieben ist.

Zeichnet euch hierfür zwei Stühle auf ein Blatt Papier. Dann schreibt über jeden Stuhl die Gedanken des entsprechenden Anteils auf. So verdeutlicht ihr euch zunächst die verschiedenen Anteile und schafft gleichzeitig Distanz zu ihnen.

Eine weitere Technik für die Grüber:innen unter uns ist der (6) Gedankenstop Sagt oder denkt hierfür in bestimmtem Ton STOP sobald ihr in eine negative Gedankenspirale geratet.

Legt euch dann eine bewusste Tages- und Uhrzeit fest, in der ihr euch Zeit für diese sorgenvollen Gedanken nehmt. Ziel ist es, weg vom maladaptiven Grübeln und rein ins lösungsorientierte Denken zu gelangen.

Und danach?

Wenn ihr von euren Gefühlen überwältigt werdet, stellen diese Strategien eine Art Erste Hilfe dar. Setzt euch jedoch auch danach weiterhin konstruktiv mit euren Gefühlen auseinander, sobald ihr „nicht mehr rot seht“.

Seid ihr z.B. in einem Konflikt geraten und habt euch kurz zurückgezogen (entgegengesetztes Verhalten), könnt ihr danach über mögliche Lösungen nachdenken (kognitives Problemlösen), sobald ihr euch beruhigt habt.

Einfluss von Emotionsregulation auf Unser Wohlbefinden und unsere Psychische Gesundheit

Die Untersuchungsergebnisse von Brockman und Kollegen aus dem Jahr 2016 zeigen, welchen Einfluss unterschiedliche Strategien auf unser Wohlbefinden haben.

Für ihre Studie füllten Studienteilnehmer:innen täglich einen Fragebogen zu ihrem emotionalen Befinden aus. Dabei zeigte sich, dass die als adaptiv geltenden Regulationsstrategien Achtsamkeit und kognitive Umbewertung mit höheren berichteten positiven Affekten in Verbindung standen, die Unterdrückung von Emotionen wiederum mit mehr negativen und weniger positiven Affekten.

Defizite in der Emotionsregulation scheinen darüber hinaus für die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Behandlung verschiedener psychischer Störungen bedeutsam zu sein, wie Depressionen, Borderline Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch, Essstörungen und somatoformen Störungen.

Unsere Emotionsregulation hat also maßgebliche Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit. Doch nicht nur dieses Wissen war der Grund dafür, warum ich bewusst damit begann, an meinem Umgang mit Gefühlen zu arbeiten.

Es geht mir seitdem einfach viel besser.

Natürlich bin auch ich noch weit davon entfernt, die hohe Kunst der Emotionsregulation vollständig zu beherrschen. Doch seitdem ich die hier beschriebenen Strategien anwende, gelingt es mir immer häufiger, einen sicheren Hafen anzusteuern, bevor der Sturm über mich hinwegzieht.


Was macht ihr, wenn ihr von Gefühlen überwältigt werdet? Lasst es mich doch in den Kommentaren wissen!


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