Was wir von Rue Bennet über Gaslighting in der Familie lernen können – und wie wir uns davon erholen

Die Serie Euphoria ist gerade in aller Munde. Bei der zentralen Protagonistin Rue, einer jugendlichen Drogenabhängigen, stellt man schnell eins fest: Sie lügt wie gedruckt. Gegenüber Anderen erfindet sie in Sekundenbruchteilen Ausreden, um eine Handlung zu leugnen oder zu rechtfertigen. Die Anderen dürften dabei nicht selten an der eigenen Wahrnehmung zweifeln.

In Kontrast zur Serie Euphoria, in der das minderjährige Kind der Familie substanzabhängig ist, sind es in der Realität wohl häufiger die Eltern. Eins bleibt jedoch gleich: Geht es um Sucht, ist ein Verhalten wie das von Rue keine Seltenheit.

Was ist Gaslighting & das Problem mit Gaslighting in der Familie

Wenn alkoholkranke Eltern ihre Kinder davon überzeugen, dass deren Gedanken, Wahrnehmungen und Überzeugungen falsch sind (z.B. indem sie den eigenen Alkoholkonsum verleugnen), ist das eine Form der Manipulation. Sie nennt sich Gaslighting.

Gaslighting ist eine wenig erforschte Form des Missbrauchs. Ein Großteil der bisher bestehenden Literatur stellt entweder ungetestete Vermutungen in den Raum oder es handelt sich schlichtweg um Einzelfallstudien, die sich nicht verallgemeinern lassen.

Zudem beschränken sich bisherige wissenschaftliche Arbeiten überwiegend auf Gaslighting am Arbeitsplatz oder in romantischen Beziehungen. Gaslighting in der Familie, ganz zu Schweigen von Gaslighting in dysfunktionalen Familiensystemen, ist noch schlechter erforscht.

Eine explorative Studie: Betroffene geben Antworten

Dementsprechend ist es gar nicht so einfach, wirklich hilfreiche Handlungsempfehlungen auszusprechen. Ich habe es trotzdem versucht.

Auf der Suche nach Behandlungsansätzen stieß ich auf eine kürzlich veröffentlichte explorative Studie von Klein und Kollegen. Im Rahmen der Studie befragten sie Personen, die angaben, Erfahrung mit Gaslighting in romantischen Beziehungen gemacht zu haben.

Betroffene, die sich vom Gaslighting erholt hatten, betonten oft die Bedeutung der Trennung vom Täter bzw. der Täterin, der Priorisierung gesünderer Beziehungen und der Beteiligung an sinnvollen und körperbezogenen Aktivitäten.

Trennung vom Täter bzw. der Täterin: Machbar bei Gaslighting in der Familie?

Ein Beziehungsabbruch führt zunächst einmal zu einer sofortigen Befreiungen von den Auswirkungen des Gaslightings. Die Trennung von einem Beziehungspartner bzw. einer -partnerin, wie in der Studie beschrieben, ist schon schwer genug. Doch von der eigenen Familie? In einer Gesellschaft, in der die Familie als Wert hoch gehalten wird, ist dieser Schritt für viele undenkbar.

Wenn wir Kinder von alkoholkranken Eltern auch noch im Erwachsenenalter Sätze wie „Du bist zu empfindlich/emotional/sensibel“ oder „Das bildest du dir bloß ein“ zu hören bekommen, ist es jedoch wichtig, Abgrenzungsstrategien zu entwickeln. Das kann geschehen, indem man den Kontakt reduziert, schwierige Situationen verlässt oder indem man klare Grenzen setzt.

Wir erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern müssen dabei erst lernen, den eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen. Das braucht Zeit und Übung. Deshalb seit nachsichtig mit euch, wenn es nicht gleich klappt. Haltet euch stets folgendes vor Augen:

  1. Es ist nicht eure Aufgabe, andere von euren Gefühlen zu überzeugen.
  2. Nur weil andere euch sagen, dass eure Gefühle nicht gerechtfertigt sind, macht es diese nicht weniger real.
  3. Ihr reagiert nicht über. Ihr sprecht über etwas, das euch aufwühlt.

Gesunde Beziehungen pflegen

Wie ich bereits in meinem letzten Beitrag schrieb, bin ich der Meinung, dass wir erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern mehr über die Sucht unserer Eltern sprechen sollten. Als Kind werden die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen durch die Eltern in Frage gestellt. Dadurch stellt man sich irgendwann ganz automatisch selbst in Frage.

Genau deshalb sind bestätigende und ermutigende Worte von Nahestehenden in meinen Augen so wichtig. Die Ergebnisse der Studie legen sogar nahe, dass jede Zeit, die man mit anderen verbringt für die Genesung hilfreich ist – vorausgesetzt, diese versuchen nicht, die eigene Handlungsfähigkeit zu untergraben.

Hobbies für Körper und Geist

Auch Hobbies können laut der Studie dazu beitragen, sich von Gaslighting zu erholen. Dabei scheint man besonders von Aktivitäten zu profitieren, durch die man in Verbindung mit dem eigenen Körper tritt. Durch Aktivitäten wie z.B. Yoga und Meditation lernt man, auf die Signale des Körpers zu hören – was einem wiederum eine klarerer Vorstellung von sich selbst geben kann.

Auch Menschen mit einer kreativen Ader können von ihrem Hobby profitieren. Versuchspersonen der Studie drückten sich nach den Gaslighting-Erfahrungen durch Aktivitäten wie Schreiben, Tagebuch führen und Kunst aus und klärten so Aspekte ihrer Selbstidentität.

Was ihr unbedingt noch über Gaslighting in der Familie wissen solltet

Man sollte die Studienergebnisse nicht als die ultimative Handlungsmaßnahme gegen Gaslighting-Erfahrungen betrachten. Klein und Kollegen verfolgten das Ziel, erste Einblick in das wenig erforschte Thema zu erhalten.

In der Untersuchung wurde Gaslighting zudem in romantischen Beziehungen untersucht. Die Ergebnisse lassen sich nicht automatisch auf Gaslighting in der Familie übertragen, da familiäre Situationen eigene Herausforderungen und Besonderheiten mit sich bringen.

Die positiven Auswirkungen von gesunden Beziehungen und Aktivitäten wie Yoga, Meditation und dem Führen eines Tagebuchs sind jedoch in diversen Kontexten gut erforscht. Mit Sicherheit profitieren auch wir erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern davon.

Was wir noch von Rue Bennet lernen können

Es gibt noch etwas, das wir von Rue Bennet lernen können. Natürlich belügt sie andere ganz bewusst. Dabei verfolgt sie aber niemals das Ziel, andere zu verletzen. Das ist eher ein Kollateralschaden, der entsteht, um den eigenen Konsum zu ermöglichen.

Wir sehen, wie Rue im Verlauf der Serie viele scheußliche Taten begeht – ihre Geliebten durch die Lügen an der eigenen Wahrnehmung zweifeln zu lassen, mag noch eine der harmloseren Dinge sein. Aber die Geschichte findet auch Wege uns zu zeigen, wie sympathisch Rue ist. Sie ist charismatisch, fürsorglich und unglaublich lustig.

Rue Bennet zeichnet ein vollständiges Bild von Menschen mit Suchterkrankung – inklusive all ihrer guten und liebenswerten Seiten. Denn das ist die Crux an der Sucht: Unsere abhängigen Eltern sind so viel mehr als ihre Krankheit. Sie handeln nicht böse, weil sie böse sind – sondern weil sie allen voran sich selbst belügen müssen.

Quellen:

A Qualitative Analysis of Gaslighting in Romantic Relationships

Wer sich für eine ausführlichere Analyse zu Rue Bennet und der Serie Euphoria interessiert, sollte übrigens unbedingt in den (Achtung: englischsprachigen) Youtube-Channel The Take hereinschauen, an deren Video ich mich viel zur Beschreibung von Rues Charakter orientiert habe.

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