Warum wir mehr über die Alkoholsucht unserer Eltern sprechen sollten

Stellt ihr manchmal euch, eure Gedanken und Wahrnehmungen in Frage? Damit seid ihr nicht allein! Das Gefühl, sich selbst nicht trauen zu können, ist möglicherweise eine Folge des wichtigsten Gesetzes von Sucht-Haushalten: Das Gesetz der Geheimhaltung. Die Konsequenzen dieses Gesetzes sind fatal für uns erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern.

Das Gesetz der Geheimhaltung

Die Weisheit „Nichts ist so sichtbar, als was man verbergen will“ aus Japan beschreibt gut, was viele Kinder von Eltern mit Alkoholproblemen erleben. Obwohl die Alkoholsucht der Eltern für alle offensichtlich ist, redet kaum jemand in der Familie darüber.

Hierbei sind besonders die Kinder betroffen. Sie müssen das Familiengeheimnis wahren und gleichzeitig so tun, als sei alles in Ordnung. Aus dem „Gesetz der Geheimhaltung“ resultieren verschiedenen Verhaltensweisen: es wird verschwiegen, gelogen, bagatellisiert oder einfach ausgeblendet.

Dieses Verhalten kann für die Kinder seelisch sehr belastend sein. Deshalb ist es wichtig, dass mehr Menschen darüber Bescheid wissen und Unterstützungssysteme gestärkt werden.

Die Alkoholsucht und das Schweigen

Auch wenn wir Kinder schon sehr früh spüren, dass etwas nicht stimmt, wird über die Sucht des abhängigen Elternteils nicht gesprochen. In der Familie herrscht die Regel des Schweigens. Sind die Kinder jung, verheimlicht das nicht trinkende Elternteil die Sucht vor ihnen. Die Kinder lernen und schweigen ebenfalls.

Werden die Kinder älter und können das Problem Alkoholismus benennen, werden sie aktiv zur Geheimhaltung aufgefordert. „Du darfst niemandem davon erzählen“, dieser Satz wird verinnerlicht. Denn die Konsequenz („sonst wirst du uns vom Jugendamt weggenommen“) ist nur allzu klar.

Die Regel des Schweigens hält selbst dann noch an, wenn das betroffene Elternteil trocken wird. Redeversuche der Kinder werden schnell mit Sätzen wie „Jetzt trinke ich ja nicht mehr“ und „Warum leidest DU? ICH habe doch das Problem“ beendet. Als Kind alkoholkranker Eltern lernt man also schnell, dass Reden Ärger erzeugt. Also schweigen wir.

Die Alkoholsucht und das Lügen

Doch Schweigen allein reicht nicht aus. Die Konsequenzen des Alkoholkonsums sind häufig viel zu deutlich sichtbar. In der Not wird zu drastischeren Maßnahmen gegriffen: Lügen. Die offensichtlichste Lüge von allen ist die Frage nach dem Alkoholkonsum. Ein „Hast du getrunken“ wird eigentlich immer verneint oder zumindest massiv verharmlost.

Doch die Regel des Lügens betrifft auch den Rest der Familie. Nicht-trinkende Elternteile lügen, um Betroffene vor den Konsequenzen ihrer Sucht zu schützen.

Auch die Kinder werden angelogen. Wer möchte ihnen schon sagen müssen, dass Papa gerade nicht spielen kann, weil er zu viel Alkohol intus hat?

Doch damit nicht genug. Die Regel des Lügens macht auch vor den Kindern nicht halt.

Durch das Verhalten unserer Eltern haben wir gelernt, dass der Schein mit allen Mitteln gewahrt werden muss. Also verdrehen auch wir die Wahrheit, wenn z.B. jemand anruft und das völlig betrunkene Elternteil sprechen möchte.

Die Alkoholsucht, das Bagatellisieren und das Verdrängen

Und dort, wo nicht mehr geschwiegen oder gelogen werden kann, wird verdrängt. Wie die abhängige Person selbst, schieben auch wir Kinder die schmerzlichen Erfahrungen weg, so dass wir uns nicht mit ihnen beschäftigen müssen. Frei nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ flüchtet man sich als Kind in eine Phantasiewelt, zu Freundinnen und Freunden oder in die Schule. Hauptsache weit weg. Hauptsache nicht nachdenken.

Ein weiterer Abwehrmechanismus von Sucht-Haushalten ist die Bagatellisierung. „Jede Familie hat Probleme“, „Es ist doch gar nicht so schlimm“, „anderen geht es viel schlechter als uns“. Sätze, die die wir Kinder von unseren Eltern eingetrichtert bekommen, so dass wir schließlich ihnen, und nicht uns selbst trauen.

So kommt es, dass die Regel der Bagatellisierung selbst im Erwachsenenalter noch ihre volle Wirkung entfaltet. Die Stimme unserer Eltern wurde schlussendlich zu unserer eigenen. So verdrehen wir die Wahrheit vor uns selbst. Es verhindert, dass wir uns Hilfe holen, denn „anderen ging es ja noch viel schlechter als uns“. Doch die Wahrheit ist: Doch, es war schlimm. Und es ist okay, sich das einzugestehen. Und wir verdienen Hilfe.

Konsequenzen für erwachsene Kinder

Denn als Kind spürt man trotz all dieser unausgesprochenen Regeln sehr wohl, dass Zuhause etwas nicht stimmt. Was man fühlt und was einem vermittelt wird, stimmen nicht miteinander überein. Der Versuch der Eltern, die Kinder davon zu überzeugen, dass ihre Gedanken, Wahrnehmungen oder Überzeugungen falsch sind, hat einen Namen: Gaslighting (auch: Reality Shifting oder Realitätsverschiebung).

Innerhalb einer alkoholabhängigen Familie kann die Erfahrung dieser Realitätsverschiebung ein unbewusster und verdeckter Prozess sein, bei dem das, was gesagt wird, im Widerspruch zu dem steht, was tatsächlich geschieht. Wenn in der Kindheit Versprechen häufig gebrochen werden und die Realität oft verzerrt wird, ist es schwierig, Vertrauen zu lernen – auch in sich selbst.

Gedanken wie „Darf ich gerade wütend sein, oder übertreibe ich (wieder einmal)?“ oder „war es ok, dass ich mich so verhalten habe?“ stehen an der Tagesordnung. Kurz gesagt: man stellt sich eigentlich dauernd selbst in Frage. Man muss kein erwachsenes Kind alkoholkranker Eltern sein, um sich vorstellen zu können, wie ANSTRENGEND das ist.

All der Stress, all die Zweifel, all das wurde ermöglicht durch das Gesetz der Geheimhaltung. Denn durch unser Schweigen verhindern wir, dass Erfahrungen und Gefühle unserer Kindheit validiert werden können. Also fasst euren Mut zusammen, brecht euer Schweigen und sprecht über die Alkoholsucht eurer Eltern. Ich kann euch versichern, ihr werdet irgendwann feststellen: Mit euch ist alles okay.

Anm.: Die hier benannten Regeln werden im Wissenschaft nicht verwendet. Ich habe mich diesen aus stilistischen Zwecken bedient, um das Phänomen der Geheimhaltung zu veranschaulichen und zu gliedern. Das Phänomen der Geheimhaltung sowie derer Komponenten (die ich hier als Regeln gegliedert habe) wiederum ist bekannt und wird z.B. in Ursula Lambrous „Familienkrankheit Alkoholismus“ sorgfältig beschrieben.

Quellen

Healing Complex Posttraumatic Stress Disorder. Kapitel: dysfunktional family systems

Stangl, W. (2022, 27. Mai). Verdrängung . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

Wenn Eltern trinken. Alkoholabhängigkeit in der Familie und ihre Auswirkungen auf die Kinder

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