Über die hohe Kunst, lästige Gefühle zu ignorieren

Ich finde Gefühle nervig. Und zwar richtig. Damit meine ich natürlich nur  unangenehme Gefühle wie Traurigkeit oder Wut. Ehrlich gesagt, waren sie lange Zeit mein schlimmster Feind.

Deshalb habe ich sie eine ganze Weile einfach ignoriert. Wäre „Gefühle unterdrücken“ eine hohe Kunst, die man erlernen kann, so wäre ich die Meisterin darin gewesen.

Und das war eine Zeit lang auch ganz schön praktisch.

Bis es das irgendwann nicht mehr war. Denn meine stoische Ignoranz kostete mich zum Schluss sowohl meine psychische als auch physische Gesundheit.

Heute kann ich sagen: zum Glück!

Die vielen Gefühle der Kinder von alkoholkranken Eltern

Als Kind fühlte ich ganz schön viel. Vor allem, wenn es um meine alkoholabhängige Mutter ging. Da waren ganz viel Liebe und Zuneigung. In mir tobten aber auch deutlich komplexere Gefühle.

Bei jedem Rückfall zum Beispiel fühlte ich bitterliche Enttäuschung. Und jedes Mal, wenn sie aufhörte, viel mir vor Erleichterung ein riesiger Stein vom Herzen.

Wenn sie trank, hatte ich schreckliche Angst um sie. Manchmal aber auch vor ihr. Vor ihrem aggressiv-betrunkenen Partner hatte ich immer Angst.

Es gab Tage, da war ich rasend vor Wut auf meine Mutter. Wie konnte sie mir das bloß immer wieder antun? Gleichzeitig hatte ich aber auch Mitleid mit ihr. Sie war einfach so furchtbar krank.

Ich war so schrecklich traurig.

Manchmal schämte ich mich für sie in Grund und Boden. Ein Teil von mir verachtete sie sogar. Und dieser Teil wiederum schämte sich für mich.

Denn so etwas darf man doch nicht für seine Mutter fühlen, oder?

Meine Kindheit bestand ebenso wie die Kindheit vieler anderer Kinder von alkoholkranken Eltern aus einem Wechselbad der Gefühle.

Wie Kinder von alkoholkranken Eltern ihre Gefühle verstecken

Ich wusste damals nicht, dass all diese Gefühle normal sind. Ich wusste nur, dass meine Mutter es nicht mochte, wenn ich wütend oder traurig wegen ihr war. Deshalb versuchte ich, meine Gefühle so gut es ging zu verstecken.

Heute weiß ich etwas, das mir in meiner Kindheit sehr weitergeholfen hätte:  dass nicht ich oder meine Gefühle das Problem waren. Meine Emotionen waren eine gesunde Reaktion auf eine kranke Umgebung.

Suchtkranke Menschen haben große Probleme damit, angemessen mit schmerzhaften Gefühlen umzugehen. Sie setzen alle Hebel in Bewegung, um nicht damit konfrontiert zu werden. Und diese Schwierigkeiten werden auf den gesamten Haushalt übertragen.

Das offensichtliche Chaos zu Hause wird ignoriert. Süchtige und ihre Partner:innen versuchen, mit allen Mitteln den Schein zu wahren. Und dort, wo alles in Ordnung ist, haben Gefühle wie Trauer, Wut, Angst, verletzt sein oder Misstrauen einfach keinen Platz.

Zumindest in der Logik suchtkranker Menschen. Denn natürlich kommen diese Gefühle in jeder Familie vor. Der Unterschied besteht darin, dass man in einem gesunden Umfeld auch unangenehme Emotionen ausdrücken darf.

Eine allgemeine Definition von emotionalem Missbrauch ist eine anhaltende, wiederholte, unangemessene Reaktion auf das Erleben von Emotionen und das damit verbundene Ausdrucksverhalten.

Gezwungen zu sein, die eigenen Gefühle verstecken zu müssen, kann also als eine Form psychischer Gewalt betrachtet werden. Der emotionale Missbrauch führt langfristig zu einem negativen Selbstbild und der tiefen Überzeugung, dass man seine Gefühle nicht ausdrücken darf.

Viele erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern legen die erlernten Verhaltensweisen also nicht einfach durch den Auszug aus dem Elternhaus ab. Viel eher übernehmen sie den ungesunden Umgang der Eltern mit Gefühlen.

Eine davon war ich.

Die (überlebens-)wichtige Rolle von Gefühlen

Nach meinem Auszug im Alter von 17 stürzte ich ohne jegliches Feingefühl für meine eigenen Grenzen von einer Katastrophe in die nächste. Ein Grund dafür war, dass ich meine Gefühle ignorierte, statt sie ernst zu nehmen.

Wut und Trauer waren für mich nichts anderes als lästige Begleiter. Ich dachte, sie zu beherrschen sei eine hohe Kunst und würde dazu führen, dass mein Leben besser läuft.

Stattdessen führte es zum Nervenzusammenbruch. 

Mir war damals nicht klar, dass meine Einstellung zu unangenehmen Gefühlen mich in genau den Situationen gefangen hielt, die ich mit aller Gewalt zu vermeiden versuchte.

Denn diese „lästigen“ Gefühle haben eine Funktion. Sie liefern uns wichtige Informationen darüber, ob unsere Bedürfnisse erfüllt oder, wie in meinem Fall, eben nicht erfüllt sind und treiben uns dann zum Handeln an. Und nicht nur das: Sie zeigen auch anderen, wie es uns geht, und was wir benötigen.

Sind wir traurig, verarbeiten wir einen erlebten Verlust. Dafür benötigen wir womöglich auch den Trost von unseren Liebsten und unsere Trauer regt uns dazu an, diese aufzusuchen.

Sind wir wütend, schützen wir eine Grenze, die überschritten wurde.

All dies ist in einem suchtkranken Haushalt nicht möglich. Denn Kinder von alkoholkranken Eltern stoßen beim Versuch ihre Gefühle auszudrücken auf Ablehnung.

Die zerstörerischen Folgen unterdrückter Gefühle

Die Folgen davon, aufkommenden Gefühle zu unterdrücken, zeigt eine eindrückliche Studie von Dalgleish und Kolleg:innen.

2009 baten sie Studienteilnehmer:innen, über belastende persönliche Erinnerungen zu schreiben. Die Versuchspersonen erhielten dabei die Anweisung, aufkommende negative Gefühle zu unterdrücken.

Dies führte ironischerweise dazu, dass sie im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne diese Anweisung einen stärkeren Anstieg negativer Emotionen erlebten.

Eine Vielzahl von Untersuchungen hat zudem gezeigt, dass Schwierigkeiten bei der Regulierung von Emotionen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen, wie Angst-, Depressions-, Substanz-, Ess- und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, spielt.

Man könnte auch sagen: Gefühle finden einen Weg, sich Gehör zu verschaffen. Wenn es sein muss, auch mit einem Inferno psychischer Erkrankungen. Es ist also egal, wie sehr man versucht, sie zu ignorieren. Irgendwann schreien sie so laut, dass man nicht mehr weghören kann.

Und das ist auch gut so.

Gefühle sind da, um gefühlt zu werden. Auch die unangenehmen.

Und auch wenn ich mich noch immer des Öfteren dabei ertappe, sie als „lästig“ abzustempeln, habe ich heute meinen Frieden mit ihnen gefunden.

Sie sind für mich wie dieser eine Menschenschlag, der dir immer genau das sagt, was du nicht hören willst, aber musst:

Diese Situation tut dir nicht gut. Schau hin!

Sie wollen mir gar nichts Böses, sondern geben alles dafür, dass ich gut für mich sorge. Und sie zu unterdrücken, ist mit Sicherheit keine hohe Kunst, sondern gefährlich.

Heute bin ich dankbar dafür, dass meine Psyche meinem Treiben irgendwann ein Ende setzte. Sonst wüsste ich bis heute nicht, wie wichtig auch meine unangenehmen Gefühle sind und dass sie nicht meine Feinde, sondern meine Freunde sind.

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