Alles, was Kliniker:innen und die Selbsthilfe-Branche über erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern annehmen, ist falsch! Oder könnte es zumindest sein. Denn die Forschung über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, ist oft nicht repräsentativ, veraltet und widersprüchlich.
Im letzten Teil meiner 3-teiligen Serie sprechen wir über die Merkmale, die erwachsenen Kindern, die alkoholabhängige Eltern haben, im klinischen und im Selbsthilfe-Kontext zugeschrieben werden. Was davon ist empirisch überprüft? Welches Wissen gilt als gesichert? Und gibt es Behauptungen, die völliger Quatsch sind?
Das Problem mit der Forschung über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben
Im zweiten Teil der Serie habe ich darauf hingewiesen, dass Untersuchungen über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, gravierende Schwachstellen aufweisen. Nur wenige Studien greifen auf umfassende Designs zurück, die auch Faktoren, die über die elterliche Alkoholsucht hinausgehen, erfassen (mehr dazu findet ihr hier).
Doch damit nicht genug. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die untersuchten Stichproben oftmals sehr klein sind. Dadurch besteht die Gefahr, dass Unterschiede zwischen Kindern, die alkoholabhängige vs. nicht-abhängige Eltern haben, übersehen werden.
Die gewählten Stichproben bilden dabei oftmals die reale Bevölkerung nicht vollständig ab, z. B. weil sie ausschließlich Student:innen untersuchen. Deshalb können die Ergebnisse solcher Studien nicht unhinterfragt auf alle anderen, wie z. B. ältere Menschen oder Nicht-Akademiker:innen, übertragen werden.
Insgesamt sind die Untersuchungsgruppen und -methoden der einzelnen Studien oft nur schwer miteinander vergleichbar. Viele der Merkmale, die Kliniker:innen und die Selbsthilfe-Branche erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern zuschreiben, sind dadurch wissenschaftlich nicht hinreichend untersucht.
Merkmale, die erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern von Kliniker:innen und in der Selbsthilfe-Branche zugeschrieben werden
Basierend auf den Beschreibungen einiger Kliniker:innen, die in den 1980er-Jahren ihre Erfahrungen zu Buche brachten, werden erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern heute eine ganze Reihe Eigenschaften zugeschrieben.
Diese klinischen Beschreibungen beinhalten Dimensionen, die bereits in der Forschung diskutiert wurden, wie z. B. verstärkter Stress, Depressionen und Angst. Die Beschreibungen in der Literatur sind jedoch dynamischer, tiefgehender und vielschichtiger.
Laut den klinischen Beobachtungen leiden erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern zudem unter Somatisierungen, rigiden, extremen und dysfunktionalen Persönlichkeitsmerkmalen, einer Anfälligkeit für abhängige bzw. missbräuchliche Beziehungspartner:innen, sowie unter generellen Beziehungsproblemen.
Kliniker:innen führten einen Großteil der Beschwerden auf „Co-Abhängigkeit“ zurück. Heute betrachten einige Therapeut:innen dieses Konzept jedoch kritisch. Doch was sagt die Wissenschaft eigentlich zu den anderen Beobachtungen aus der Praxis? Ich habe es für euch herausgefunden.
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern haben einen niedrigen oder instabilen Selbstwert und Identitätsprobleme“
Einige groß angelegte und gut durchdachte Studien legen nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen elterlichem Alkoholismus und einem geschwächten Selbstwertgefühl der Kinder im Erwachsenenalter gibt.
Darüber hinaus haben erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern potenziell das Risiko, von Schamgefühlen geplagt zu werden, mit negativen Selbstannahmen zu kämpfen und eine etwas wackelige Vorstellung von ihrer eigenen Identität zu haben.
Dabei handelt es sich jedoch nicht um Probleme, mit denen ausschließlich erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern kämpfen. Daher ist noch nicht abschließend geklärt, ob die Schwierigkeiten tatsächlich durch den elterlichen Alkoholismus entstehen. Auch familiäre Dysfunktion, weitere psychische Erkrankungen der Eltern oder andere Stressfaktoren kommen dafür in Frage.
„Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, wollen als Erwachsene immer die Kontrolle behalten“
In Studien, in denen erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern gezielt nach ihrem Kontrollbedürfnis befragt wurden, gaben diese an, einen erhöhten Wunsch nach Kontrolle zu haben. Zudem scheinen sie in Untersuchungen das Ausmaß der Kontrolle, das sie bei bestimmten Aufgabenstellungen haben, zu überschätzen.
Das Problem: In den meisten Studien blieben Faktoren, die dieses Ergebnis beeinflussen könnten, unberücksichtigt. Werden Personen vor Studienteilnahme z. B. durch Selbsthilfegruppen mit dem Stereotyp konfrontiert, Kinder alkoholkranker Eltern seien kontrollsüchtig, kann das die Ergebnisse verfälschen.
Betrachtet man das Thema Kontrolle umfassender, zeichnet sich ein anderes Bild ab: In Untersuchungen, die sich mit Dominanz, Direktivität oder kontrollierenden Persönlichkeitsmerkmalen befassen, unterscheiden sich erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern nicht von anderen Personen.
Bis strenger kontrolliertere Untersuchungen vorliegen, bleibt die Frage, ob erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern tatsächlich besonders kontrollbedürftig sind, also weiterhin offen.
„Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, kämpfen als Erwachsene mit Bindungsproblemen“
Ich mache es kurz: Es ist bisher offen, ob erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern Schwierigkeiten beim Aufbau sicherer Bindungen, der Etablierung von Intimität, Vertrauen und angemessenen zwischenmenschlichen Grenzen haben. Unklar ist auch, ob sich männliche und weibliche Kinder alkoholkranker Eltern unterschiedlich gut auf Bindungen einlassen können.
Das liegt vor allem daran, dass bisher existierende Studien nicht ausreichend auf Störfaktoren kontrollieren. Die verwendeten Methoden sind oft nicht langfristig angelegt und zu wenig komplex, um ein vollständiges Bild zu zeichnen. Nur wenige Studien berücksichtigen zudem die Auswirkungen anderer Kindheits-Stressoren, wie zusätzliche elterliche Erkrankungen oder familiäre Dysfunktion.
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern suchen sich abhängige oder missbrauchende Partner:innen“
Einige Forscher:innen haben herausgefunden, dass Menschen aus Familien mit Alkoholproblemen eher dazu neigen, Personen mit einem ähnlichen Hintergrund zu heiraten. Laut diesen Studien neigen sie demnach dazu, Partner:innen zu wählen, die ebenfalls alkoholkranke Eltern haben oder suchtkrank sind.
Andere Studien haben jedoch gezeigt, dass Menschen aus solchen Familien nicht unbedingt häufiger Partner:innen wählen, die Probleme mit Abhängigkeiten haben. Die Studienergebnisse widersprechen sich also. Demnach bedarf es auch hier weiterer Untersuchungen, um eindeutige Aussagen treffen zu können.
„Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, führen als Erwachsene unbefriedigende Beziehungen“
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern befinden sich in einem Zustand der Leugnung“
In Selbsthilfe-Kreisen werden Menschen, die in Familien mit Alkoholproblemen aufgewachsen sind, als in einem Zustand der Leugnung beschrieben. Dieses Leugnen soll dazu beitragen, die dysfunktionalen Muster innerhalb der erkrankten Familie aufrechtzuerhalten. Somit gilt das Durchbrechen der Leugnung als Beginn der Genesung.
Obwohl die Leugnung eine bedeutende Rolle in der klinischen Theorie spielt, wurde sie bisher wissenschaftlich nur wenig erforscht. Es mangelt auch an indirekten Nachweisen für eine übermäßige Leugnung.
Daher sollte der Erforschung der Rolle von Leugnung, sowohl im Bezug auf suchtaufrechterhaltende Verhaltensweisen, als auch im Bezug auf den Genesungsprozess, eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
„Erwachsene Kinder leiden häufig an stressbedingten körperlichen Erkrankungen und Somatisierungen“
Erwachsene Kinder, die alkoholsüchtige Eltern haben, werden oft als in dauerhaft stressigen Situationen verharrend beschrieben. Das soll laut Kliniker:innen dazu führen, dass sie häufiger unter stressbedingten körperlichen Erkrankungen und Somatisierungen leiden.
Bei stressbedingten körperlichen Erkrankungen handelt es sich um medizinische Erkrankungen, die durch Stress entstehen oder gefördert werden. Tatsächlich untersuchte Mützell im Jahr 1994 die Krankenakten von erwachsenen Kindern, deren alkoholkranke Väter 15 Jahre zuvor stationär behandelt wurden, und fand eine erhöhte Häufigkeit von körperlichen sowie psychiatrischen Erkrankungen.
Bei Somatisierungen geht es um durch Stress ausgelöste Symptome, wie z. B. Kopf- oder Bauchschmerzen, für die sich keine eindeutige medizinische Ursache finden lässt. Somatisierungen wurden weitaus häufiger untersucht als stressbedingte körperliche Erkrankungen… mit ernüchterndem Ergebnis: Die meisten Studien fanden zwischen Kindern alkoholkranker Eltern und einer Vergleichsgruppe keine Unterschiede.
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern haben Probleme im Umgang mit ihren Gefühlen“
In der Welt der Selbsthilfe-Literatur liest man oft, dass erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern dazu neigen, übermäßig mit ihren Emotionen zu kämpfen. Ihnen wird nachgesagt, dass sie Schwierigkeiten haben, Gefühle wahrzunehmen, was als „Alexithymie“ bekannt ist, und dass sie zu dramatischen Gefühlsausbrüchen neigen.
Auch diese Behauptungen wurden jedoch zum Zeitpunkt von Harters Überblicksarbeit empirisch nur wenig erforscht. Vorhandene Studien konnten weder Alexithymie noch klare Unterschiede bei der Verdrängung oder im Umgang von Gefühlen feststellen.
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern sind sehr leistungsorientiert“
Erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern wird manchmal eine zwanghafte Leistungsorientierung attestiert. Hier spricht die Forschung eine andere Sprache: Studien zeigen eher eine verringerte akademische Leistung, sowie niedrigere Bildungsniveaus und Einkommen in späteren Lebensphasen. In anderen Untersuchungen zeigen erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern zwar keine schlechtere, aber auch keine bessere Leistung.
„Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern weisen ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil auf und sind co-abhängig“
Die Komplexität erwachsener Kinder alkoholabhängiger Eltern: Zwischen Forschung und Stereotypen
Da seit dem Jahr 2000 keine weitere auch nur annähernd so umfangreiche Übersichtsarbeit wie die von Harter veröffentlicht wurde, lässt sich nur schwer beurteilen, ob die Forschung die thematisierten Probleme mittlerweile angegangen, und wenn ja, zu welchen Schlussfolgerungen sie gekommen ist.
Harters Übersichtsarbeit ist ein Appell; ein Appell daran, dass wir die Forschung auf diesem Gebiet weiterhin verfolgen und ein umfassenderes Verständnis für die Erfahrungen erwachsener Kinder alkoholabhängiger Eltern entwickeln müssen. Denn nur so können wir effektive Unterstützung und Interventionen bieten, die auf evidenzbasierten Erkenntnissen fußen und gleichzeitig individuellen Bedürfnissen gerecht werden.
Erkennt ihr euch in einem oder mehreren der beschriebenen Merkmalen wieder? Und wenn ja: in welchen? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!
Quelle
Harter, S. L. (2000). Psychosocial adjustment of adult children of alcoholics. Clinical Psychology Review, 20(3), 311–337. doi:10.1016/s0272-7358(98)00084-1