Das ACoA-Syndrome – Offenbarung oder Humbug?

In den 80er Jahren komprimierten einige Autor:innen die anekdotischen Erfahrungen erwachsener Kinder alkoholkranker Eltern zu einem Krankheitsbild, unter dem ein Großteil der betroffenen Kinder leiden soll.

Seitdem diskutieren Wissenschaftler:innen und Kliniker:innen hitzig, ob das sogenannte ACoA-Syndrome tatsächlich existiert, oder ob es eine untragbare Verallgemeinerung darstellt.

Eine im Jahr 2000 erschienene Übersichtsarbeit von Stephanie Lewis Harter bringt etwas Licht ins Dunkle.

Über das ACoA-Syndrome

ACoA steht für „Adult Children of Alcoholics“ (Erwachsene Kinder von Alkoholikern). Das Syndrom beschreibt Verhaltensweisen, die Menschen zeigen können, die mit alkoholabhängigen Eltern aufgewachsen sind. Personen, die darunter leiden, sollen demnach z. B. zu „Co-Abhängigkeit“ und einem starken Bedürfnis nach Kontrolle neigen.

ACoA-Syndrome: Die Entstehungsgeschichte

Die Geburtsstunde des Begriffs stellt das 1983 von Dr. Janet Woititz veröffentlichte Buch Adult Children of Alcoholics dar. Der Erfolg des Buchs war riesig.

Allein die englische Version verkaufte sich 1.8 Millionen Mal. 1987 wird es zum New York Times-Bestseller. Insgesamt wird das Buch in sechs Fremdsprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche.

In ihrem Werk hält die Psychologin unter anderem 13 charakteristische Verhaltensweisen von Kindern alkoholkranker Eltern fest. Diese hatte sie auf ihrer Arbeit im Rutgers Center for Alcoholic Studies beobachtet. Diese Beobachtungen werden schnell zum Anstoß für weitere Literatur.

So stellt der Psychiater Dr. Timmen Cermak bald darauf die Vermutung auf, dass Kinder alkoholkranker Eltern unter einem Krankheitsbild leiden, das sich durch Co-Abhängigkeit und posttraumatische Stresssymptome auszeichnet.

1986 veröffentlicht Melodie Beattie dann das Buch Codependent No More. Ihr Werk trug zur öffentlichen Verschmelzung der Konzepte Co-Abhängigkeit und einem für Kinder alkoholkranker Eltern spezifisches Syndrom bei.

Das Werk verkauft sich in kurzer Zeit acht Millionen Mal.

Auch Dr. Timmen Cermak veröffentlicht 1989 ein Buch mit dem Titel A Primer on Adult Children. Dort beschreibt er fünf Anzeichen von Co-Abhängigkeit, die seines Erachtens spezifisch für Familienmitglieder von Alkoholiker:innen sind.

In den darauf folgenden Jahren setzte sich das Konzept des ACoA-Syndromes unter Laien weitgehend durch. Es entstand eine bis heute anhaltende Volksbewegung und Selbsthilfe-Industrie.

Doch hinter den Büchern versteckt sich eine unerzählte Geschichte.

Unausgesprochene Tatsachen hinter dem Erfolg

Lasst uns einmal einen genaueren Blick auf die Werke von Cermak und Woititz werfen.

Dr. Timmen Cermak war so überzeugt von seinen Annahmen über Kinder alkoholkranker Eltern, dass er eigene Diagnosekriterien für eine Co-Abhängigkeitspersönlichkeitsstörung entwickelte.

Er forderte, diese als offizielle Diagnose in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, auf dessen Basis in den USA psychische Erkrankungen diagnostiziert werden, aufzunehmen.

Sein Vorschlag wurde 1986 von der American Psychological Association abgelehnt. Sein Werk A Primer on Adult Children publizierte Dr. Cermak drei Jahre später dennoch.

Auch Dr. Janet Woititz, die durch ihre Arbeit Koryphäen-Status erlangte, nahm mit ihrem Buch beträchtlichen Einfluss auf die gesamte ACoA-Bewegung.

Das Problem: Die in Woititz Werk beschriebenen Verhaltensmuster werden als Tatsachen dargestellt, obwohl ihnen jegliche wissenschaftliche Grundlage fehlt.

Es handelt sich ausschließlich um Beobachtungen und somit Einzelfälle. Diese können zwar wichtige Impulse für weiterführende Forschung sein, sollten aber keinesfalls in einem solchen Ausmaß verallgemeinert werden.

Schwierigkeiten bei der Validierung des Syndroms

Die Forschung, die die empirische Unterstützung liefern soll, steht dabei vor erheblichen methodischen Herausforderungen.

Für eine wissenschaftliche Untersuchung muss zunächst genau definiert werden, wie sich die von Woititz beschriebenen Merkmale zeigen und erfassen lassen.

Kritiker:innen bezeichnen Woititz Liste jedoch als so zweideutig formuliert, dass jede:r sie als zutreffend interpretieren könnte. Dieses Phänomen wird als Barnum-Effekt bezeichnet.

Dazu kommen weitere Probleme: Möchte man die Symptomologie eines Syndroms entwickeln und validieren, müssen in der Forschung mehrere wichtige Variablen kontrolliert werden, darunter:

  • der Schweregrad und der Status der Alkoholkrankheit des Elternteils
  • zusätzliche Erkrankungen des erkrankten Elternteils
  • Alter und Geschlecht des Kindes bei Beginn der elterlichen Alkoholkrankheit
  • die genetische Veranlagung des Kindes zu Alkoholismus
  • ob die Studienteilnehmer:innen sich selbst als ACoAs bezeichnen
  • und ob die Teilnehmer:innen bereits wegen einer psychischen Störung in Behandlung sind

Aufgrund dieser Herausforderungen war die Forschung zum ACoA-Syndrome eher spärlich und widersprüchlich.

Das tat der populären Literatur über Kinder alkoholkranker Eltern jedoch keinen Abbruch. 1987 und 1988 erreichte sie mit jeweils 9 Büchern ihren Höhepunkt, weitere 9 erschienen zwischen 1989 und 1990.

Bis 2003 ging die Zahl auf Null zurück. Der ACoA-Boom hat mittlerweile also nachgelassen. Das Konzept eines ACoA-Syndromes hat sich jedoch längst im Wortschatz von Öffentlichkeit und Fachleuten etabliert.

ACoA-Syndrome: Was ist am tatsächlich dran?

Die im Jahr 2000 (ja, ich weiß, das liegt schon sehr lange zurück, aber dazu kommen wir ein anderes Mal) veröffentliche Übersichtsarbeit von Stephanie Lewis Harter hat es sich zum Ziel gemacht, etwas Licht in die Frage bezüglich der Existenz des ACoA-Syndromes zu bringen.

Die Forscherin untersuchte seit 1988 erschienene kontrollierte Studien über die psychosoziale Anpassung von erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass Kinder alkoholkranker Eltern ein erhöhtes Risiko für eine Vielzahl negativer Folgen zu haben scheinen, darunter

  • Substanzmissbrauch
  • antisoziales oder unzureichend kontrolliertes Verhalten
  • depressive Symptome
  • Angststörungen
  • ein geringes Selbstwertgefühl
  • Schwierigkeiten in familiären Beziehungen, sowie
  • ein allgemein erhöhtes Leid und Fehlanpassungen.

Keines dieser Ergebnisse wird jedoch einheitlich bei Kindern alkoholkranker Eltern beobachtet und keines ist spezifisch für sie.

Vielmehr entstehen solche und ähnliche Probleme auch durch weitere (psychische) Erkrankungen der Eltern, Missbrauchserfahrungen, familiäre Dysfunktion und andere Stressfaktoren.

Lewis Harter folgert daher, dass es kaum empirische Belege für das ACoA-Syndrome gibt. Es handelt sich eher um Symptome, die Personen, welche in ihrer Kindheit großem Stress ausgesetzt waren, zeigen.

Alles Humbug?

Das Festhalten an einem Syndrom, unter dem spezifisch Kinder alkoholkranker Eltern leiden, ist so also nicht tragbar und kann meines Erachtens zu Problemen führen.

Zum einen kann der Begriff Betroffene verunsichern: Finden sie sich nicht in der beschriebenen Symptomatik wieder, halten sie sich womöglich für nicht belastet genug und geben die Suche nach Hilfe auf.

Auch, wenn die Hilfe dringend benötigt wird.

Doch auch das Gegenteil könnte der Fall sein: Möglicherweise überidentifizieren sich Betroffene. Allzu leicht entsteht der Eindruck, dem ACoA-Schicksal machtlos ausgeliefert zu sein.

Fallen die Beschreibungen des ACoA-Syndromes dann noch in die Hände unprofessioneller, im Beratungswesen tätiger Menschen (z.B. nicht hinreichend ausgebildeter psychotherapeutischer Heilpraktiker:innen), ist der möglicherweise entstehende Schaden kaum auszumalen.

Ist deshalb alles am ACoA-Syndrome Humbug? Sollten wir alles, was jemals darüber gesagt wurde als falsch verschreien?

Nein.

Laut dem aktuellen Wissenstand ist das ACoA-Syndrome zwar überholt. Doch dieses Wissen haben wir nur dank der ACoA-Bewegung der 80er Jahre.

Woititz und Co. brachten mit ihren Werken einen riesigen Stein ins Rollen. Sie setzten Gespräche in Gang und lieferten Forschungsimpulse.

Kinder alkoholkranker Eltern machten durch sie womöglich erstmals die Erfahrung, nicht allein zu sein, verstanden zu werden und fühlten sich irgendwem zugehörig.

Die Identifikation als ACoA schärft möglicherweise zudem das Bewusstsein für Stolpersteine, die ein solches Schicksal mit sich bringt.

So mäßigten Personen, die die Erblichkeit von Alkoholismus fürchteten, in einer 2010 durchgeführten Untersuchung von Haller und Chassin eher ihren Konsum – vor allem während der vulnerablen Phase im frühen Erwachsenenalter.

Das eigene Schicksal mitbestimmen

Lewis Harter beendet ihre Übersichtsarbeit mit den Worten:

„Es ist nicht klar, ob die Förderung des ACoA-Syndromes einen therapeutischen Zweck erfüllt, indem sie den schwierigen Erfahrungen von Kindern alkoholkranker Eltern ein Gefühl der Universalität verleiht, oder ob sie iatrogene Probleme schafft, indem sie suggeriert, dass Kinder alkoholkranker Eltern zwangsläufig durch ihre Erfahrungen geschädigt werden.“*

Die Bewegung der 80er ist also Risiko und Chance zugleich. Sie gab erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern erstmals die Möglichkeit, eigene Erfahrungen einzuordnen.

Sie gab Betroffenen das Gefühl nicht allein zu sein.

Doch das ACoA-Syndrome vermittelt auch eine gewisse Determiniertheit. Schnell entsteht das Gefühl, keinen Einfluss auf die eigene Entwicklung zu haben.

Dank dem heutigen Forschungsstand wissen wir jedoch, dass wir unserem Schicksal nicht erlegen sind. Es liegt in unserer Hand, über unseren Weg zu entscheiden. 


Habt ihr zuvor schon mal etwas vom ACoA-Syndrome gehört oder gar eines oben genannten Bücher gelesen? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!


Quellen

Wolfgang Saxon. (1994). Janet G. Woititz, 55, Author Who Studied Alcoholics‘ Children. The New York Times.

Harter, S. L. (2000). Psychosocial adjustment of adult children of alcoholics: a review of the recent empirical literature. Clinical psychology review, 20(3), 311–337.

Manley, V. (2015). Clinical Perspectives on the Applicability of “ACOA” as a Diagnosis.

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