Im Jahr 2005 offenbarte meine Mutter ihr „kleines Alkoholproblem“ und flehte mich an, es niemandem zu verraten. Doch die Last dieses Geheimnisses drückte schwer auf meinen Schultern. Zwischen dem Wunsch mich jemandem anzuvertrauen und der Angst davor, meine Mutter zu verraten, befand ich mich in einem zermürbenden Dilemma. Doch das ist nicht der einzige Loyalitätskonflikt, in den Kinder alkoholkranker Eltern geraten.
Was sind Loyalitätskonflikte
Wir alle empfinden bestimmten Personen oder ganzen sozialen Gruppen gegenüber ein Gefühl der Treue. In den meisten Fällen steht diese Loyalität gegenüber verschiedenen Menschen nicht im Widerspruch zueinander.
Manchmal weichen die Interessen der Personen jedoch voneinander ab. Dadurch fühlen wir uns eventuell gezwungen, uns für eine Seite entscheiden zu müssen. Wir geraten in einen Loyalitätskonflikt.
Die Auflösung eines solchen Konflikts ist ein Drahtseilakt und erfordert viel Fingerspitzengefühl. Umso schlimmer ist es, dass gerade Kinder häufig in die Zwangslage gebracht werden, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.
Forschungsergebnisse konzentrieren sich zwar hauptsächlich auf die Auswirkungen von Loyalitätskonflikten bei Scheidungskindern. Jedoch berichten auch Kinder alkoholkranker Eltern von ähnlichen Herausforderungen in Bezug auf Loyalitätskonflikte.
Wie Kinder alkoholkranker Eltern in einen Loyalitätskonflikt geraten
Laut verschiedenen Studien geraten vor allem Kinder aus getrennten, geschiedenen, unglücklichen und konfliktreichen Ehen in einen Loyalitätskonflikt. Da Ehekonflikte bei alkoholabhängigen Personen häufig vorkommen, liegt es nahe, dass auch Kinder alkoholkranker Eltern davon betroffen sind – und zwar gleich zweimal.
Einerseits werden sie direkt oder indirekt dazu aufgefordert, für Vater oder Mutter Partei zu ergreifen, z. B. indem sie einen Elternteil belügen, um den anderen zu schützen. Andererseits dürfen sie oftmals auch mit niemandem außerhalb der Kernfamilie über die Alkoholproblematik reden.
Somit stehen Kinder alkoholkranker Eltern nicht nur zwischen den Stühlen, sondern mit ihren schmerzhaften Gefühlen auch völlig allein da.
Die Folgen von elterlichem Streit und einem Loyalitätskonflikt
Kinder, die im hohen Maß elterlichen Konflikten ausgesetzt sind, stehen unter erhöhtem Risiko, eine Reihe von Verhaltens- und emotionalen Problemen zu entwickeln – sowohl in der Kindheit, als auch später im Leben.
Dabei ist laut Studien nicht das Ausmaß des elterlichen Konflikts maßgeblich für spätere Probleme. Es ist das Ausmaß, in dem Kinder und Jugendliche in den elterlichen Konflikt hineingezogen werden. Scheidungskinder, die sich zwischen dem Konflikt ihrer Eltern gefangen fühlen, berichten also von mehr Problemen als Scheidungskinder ohne dieses Gefühl.
Kinder, deren Eltern viel streiten und die somit eher in einen Loyalitätskonflikt geraten, leiden demnach häufiger unter:
- einem geringeren subjektives Wohlbefinden
- einer schlechteren Eltern-Kind-Beziehung
- höheren Depressionswerten
- mehr Angst-Symptomen
Zudem neigen sie im Jugend- und Erwachsenenalter eher dazu, sich ihren Partner:innen gegenüber missbräuchlich zu verhalten und weisen eine höhere Scheidungsrate auf.
Elterliche Handlungen, die die Beziehung zum anderen Elternteil schädigen sollen und im schlimmsten Fall diesem gegenüber zu einer starken Ablehnung des Kindes führen, stehen zudem zusätzlich im Zusammenhang mit:
- einem generell erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen
- einem geringeren Selbstwertgefühl
- einer geringeren Eigenständigkeit
- einem höheren Alkohol und Drogenkonsum,
- unsicherem Bindungsverhalten,
- geringerer Lebensqualität,
- Gefühle von Verlust, Verlassenheit und Schuld
Das Schweigen brechen
Kinder alkoholkranker Eltern sind also gleich in zwei unterschiedliche Loyalitätskonflikte verwickelt: Sie geraten zwischen die Fronten der Eltern und dürfen auch im Außen niemandem von der elterlichen Sucht erzählen. Dadurch steigt ihr Risiko für psychische Erkrankungen.
Für mich half nur ein Weg aus diesem Dilemma: Ich brach mein Schweigen und teilte mich einer guten Freundin mit. Die Bürde, das Geheimnis meiner Mutter allein zu tragen, war zu groß. Ich bin noch heute jeden Tag dankbar, mich jemandem geöffnet zu haben.
Meine Entscheidung ebnete mir den Weg für die Erfahrung, dass es kein Verrat ist, sich jemandem mitzuteilen. Das wiederum machte es mir leichter, mich anderen zu öffnen und Hilfe anzunehmen. Es befreite mich aus meiner Isolation.
Ohne Unterstützung hätten sich meine Probleme ins Unermessliche gesteigert. Ich kann diesen Text also nur mit einer Aufforderung beenden und diese lautet:
„Das solltest du unbedingt jemandem erzählen!“
Seid ihr in eurer Kindheit in einen Loyalitätskonflikt geraten? Wenn ja, wie war diese Erfahrung für euch? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!
Quellen
Loyalität – Definition: APA Dictionary of Psychology (Hrsg.). (o.D.). Loyalty.
Was ist ein Loyalitätskonflikt: Zilber, C. (2017). Conflicts of Loyalty: Recognition Is Key. Psychiatric News, 52(23). https://doi.org/10.1176/appi.pn.2017.11b24
Klein, M. (2001). Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven. Suchttherapie, 2(3), 118–124.
Loyalitätskonflikte von Kindern in konfliktreichen Ehen: Amato, P. R., & Afifi, T. D. (2006). Feeling Caught Between Parents: Adult Children’s Relations With Parents and Subjective Well-Being. Journal of Marriage and Family, 68(1), 222–235. https://doi.org/10.1111/j.1741-3737.2006.00243.x
Loyalitätskonflikte von Kindern mit getrennten & unglücklich liierten Eltern: Baker, A. J. L., & Eichler, A. (2014). College Student Childhood Exposure to Parental Loyalty Conflicts. Families in Society, 95(1), 59–66. https://doi.org/10.1606/1044-3894.2014.95.9
Elterliche Konflikte bei Alkoholabhängigkeit: Klein, M. (2001). Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven. Suchttherapie, 2(3), 118–124.
Loyalitätskonflikte gegenüber Vertrauenspersonen: Baumann, Menno & Bolz, Tijs. (2021). Loyalitätskonflikte, Eltern-Kind-Entfremdung und Umgangsstreitigkeiten als juristische, gutachterliche und beraterische Krise – eine bindungsdynamische Perspektive. In: ZKJ 6/2021, 212-218. 16. 212-218.
Elterliche Handlungen, die anderem Elternteil schaden sollen: Miralles, P., Godoy, C., & Hidalgo, M. D. (2021). Long-term emotional consequences of parental alienation exposure in children of divorced parents: A systematic review. Current Psychology: A Journal for Diverse Perspectives on Diverse Psychological Issues. Advance online publication. https://doi.org/10.1007/s12144-021-02537-2