Die Verlustangst und ich: bis dass der Tod uns scheidet

Lebenspartner:innen kommen und gehen. Na ja, zumindest bei mir.

Ein unerwünschter Begleiter verlässt mich dagegen jedoch nie. Wie eine Klette hat er sich an mich geheftet und lässt mich einfach nicht los: meine extreme Verlustangst.

Einige Studien deuten darauf hin, dass Kinder alkoholkranker Eltern wie ich häufiger unter Bindungsproblemen leiden als Kinder nicht-süchtiger Eltern. Der Grund dafür liegt wie so oft in der Vergangenheit.

Mit fast 30 Jahren betrachten mich die meisten Leute als erwachsen. Doch die Wahrheit ist: manchmal bin ich nur das Kind im Körper einer Erwachsenen.

Natürlich ist das nicht wörtlich gemeint. Ich meine damit, dass mein Kindheits-Ich in bestimmten Situationen das Steuer an sich reißt. Dann reagiere ich auf eine Art und Weise, die so ganz und gar nicht erwachsen ist.

Dabei kommt mir besonders ein Szenario in den Kopf: eine (antizipierte) Trennung. Denn ich habe eine ausgesprochen starke Angst davor, verlassen zu werden. Okay, man muss nicht aus einem Sucht-Haushalt kommen, um unter einer Trennung zu leiden. Doch bei mir nimmt das Ganze absurde Ausmaße an.

Ein paar Beispiele gefällig?

Es macht mich nervös, wenn mein Partner vor mir einschläft. Denn das fühlt sich an, als würde er mich zurücklassen.

Aber wehe, ich wache nachts auf und mein Partner ist noch immer wach. Liegt er dann nicht neben mir, fühlt sich auch das, ihr könnt es euch sicher schon denken, an, als würde er mich zurücklassen.

Es ist dabei vollkommen egal, ob er einfach noch nicht müde ist oder nur schnell auf die Toilette muss. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit – garantiert.

Solch banalen Situationen kann ich zwar mittlerweile mit Humor und Selbstironie nehmen – ich bin ja immerhin schon fast 30 – doch es kann auch anders laufen.

Hat mein Partner mal schlechte Laune, kommt etwas zu spät nach Hause, oder wir geraten in einen Streit, werde ich schon ziemlich unsicher.

Geht meine Beziehung tatsächlich den Bach runter oder befindet sich zumindest in einer ernsthaften Krise, kommt keine Rationalität mehr gegen die Panik an, die sich in mir breit macht.

Es bringt mich in extremste Existenzängste. Manchmal fühlt es sich an wie sterben.

Natürlich weiß ich, dass diese Panik völliger Humbug ist. Ich bin bisher weder völlig vereinsamt, noch jemals an einer Trennung gestorben. Ich bin gebildet, verdiene mein eigenes Geld, habe Hobbys und Freund:innen.

Kurzum: ich bin erwachsen und unabhängig. Und als Erwachsene weiß ich auch, dass ich für mich sorgen kann – mit und auch ohne Partner.

Woher also kommt diese extreme Verlustangst? Sie kommt aus einer Kindheit, in der ich Mal um Mal verlassen wurde.

Ein Blick in die Vergangenheit

Als ich 12 Jahre alt war, teilte mir meine Mutter mit, dass sie ‚ein kleines Alkoholproblem‘ habe. Nun hatte ich endlich ein Wort für ihr seltsames Verhalten: Sucht.

Natürlich hatte ich bereits lange gespürt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Doch in dieser Zeit hatte ihr bizarres Benehmen bisher unbekannte Ausmaße angenommen.

Zu meiner Erleichterung fand sich schnell eine Lösung: Meine Mutter versprach mir, mit dem Trinken aufzuhören.

Sie machte einen Entzug und für ein paar Wochen schien meine kleine Welt wieder in Ordnung zu sein. Ich glaubte wirklich, es wäre so einfach.

Umso härter traf mich ihr erster Rückfall. Und dann der nächste. Und dann der nächste.

Unsere Folgejahre waren geprägt von ihren unzähligen Versuchen, trocken zu werden. Mit der Zeit lernte ich, dass es nur eine Gewissheit gibt: Der nächste Rückfall kommt bestimmt.

Jeder dieser Rückfälle bedeutete für mich eine auf unbestimmte Zeit völlig unzurechnungsfähige Mutter, die mich weder versorgen noch beschützen kann.

Sie bedeuteten, dass ihre Liebe für mich nicht stark genug war, um durchzuhalten und dass ich völlig auf mich allein gestellt war.

Sie ließ mich in einer Welt zurück, in der ich ohne sie nicht überlebensfähig war. Immer und immer wieder.

Bis heute erinnere ich mich an das tiefgreifende Entsetzen und die absolute Hilflosigkeit, die jeder ihrer Rückfälle mit sich brachte.

Die Bindungstheorie

Forscher:innen, die sich mit der Bindungstheorie beschäftigen, gehen davon aus, dass unterschiedliche Menschen sich unterschiedlich in romantischen Beziehungen verhalten – und zwar abhängig von ihren Kindheitserfahrungen.

Der Theorie zufolge dienen unsere Eltern als eine Art Vorlage, auf deren Basis wir zukünftige Partner:innen einschätzen. Je nachdem, wie feinfühlig wir von unseren Eltern versorgt wurden, fühlen wir uns in künftigen Beziehungen entweder sicher, ängstlich oder verhalten uns gar vermeidend.

Alkoholabhängige Eltern können uns Kindern krankheitsbedingt womöglich nicht immer die benötigte Fürsorge und Beständigkeit bieten. Das wiederum beeinflusst der Theorie zufolge unser Bindungsverhalten.

Tatsächlich berichten junge erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern in einer 2005 publizierten Untersuchung von Kelley und Kolleg:innen von mehr erlebter Angst und vermeidenden Verhaltensweisen in Beziehungen.

So kommt es also, dass bereits Banalitäten wie eine unbeantwortete Textnachricht dazu führen können, dass wir von Gefühlen überflutet werden, die nur noch sehr wenig mit der aktuellen Situation zu tun haben.

Dann heißt es: Bühne auf, Spotlight on, Auftritt: Kindheits-Ich.

Der Umgang mit extremer Verlustangst

Unser Kindheits-Ich sehnt sich nach Beruhigung. Diese wird es jedoch vermutlich niemals bekommen. Niemand kann in die Vergangenheit reisen und dem Kind geben, was es damals benötigte: Trost, Sicherheit und Stabilität.

Niemand – außer wir selbst.

Ich habe mittlerweile akzeptiert, dass die Angst vorm Verlassen werden ein Teil von mir ist. Alte Gefühle werden vermutlich Zeit meines Lebens immer wieder an die Oberfläche dringen.

Erst diese Akzeptanz ermöglichte es mir, einen Weg zu finden, mit diesen intensiven Emotionen umzugehen. Mittlerweile erkenne ich ganz gut, wenn nicht mein Erwachsenes, sondern mein Kindheits-Ich fühlt.

Dann nehme ich mir Zeit und tröste es. Gleichzeitig mache mir bewusst, dass ich mich in einer vollständig neuen Situation befinde. Ich führe mir ganz genau vor Augen, was sich alles verändert hat.

Danach frage ich mich bewusst danach, welche Gedanken mich beruhigen könnten und was ich unternehmen kann, um mich besser zu fühlen.

Diese Schritte besänftigen mein Kindheits-Ich genug, um mit den intensiven Gefühlen umgehen zu können. Ich weiß nun, dass ich nie wieder so hilflos sein wie damals.

Fühle ich mich weiterhin alarmiert, spreche ich mit meinem Partner darüber. Gemeinsam analysieren wir die auslösende Situation und suchen nach einer Lösung, die ihn nicht bedrängt und mich beruhigt.

Was aus dem Kindheits-Ich geworden ist

Wächst man mit alkoholkranken Eltern auf, fällt das Vertrauen fassen schwer. Die eigene Verlustangst zu überwinden ist eine Mammut-Aufgabe, die sich nur mit viel Reflexion, Geduld und Selbstmitgefühl bewältigen lässt.

Dabei erleiden auch wir manchmal Rückfälle. Noch heute falle ich hin und wieder in alte Verhaltensmuster zurück. Dann reagiere ich wieder wie das kleine Kind, das sich nach Sicherheit und Beständigkeit sehnt.

Ob mein Kindheits-Ich mittlerweile also erwachsen ist? Eher nicht. Aber eins weiß ich: Es wächst jeden Tag ein Stückchen mehr.


Leidet ihr auch unter Bindungsproblemen und habt Angst davor, verlassen zu werden? Wie geht ihr damit um? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!


Quelle

Bindungsverhalten von erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern: Kelley ML, Nair V, Rawlings T, Cash TF, Steer K, Fals-Stewart W. Retrospective reports of parenting received in their families of origin: relationships to adult attachment in adult children of alcoholics. Addict Behav. 2005 Sep;30(8):1479-95.

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2 Antworten auf „Die Verlustangst und ich: bis dass der Tod uns scheidet“

  1. Hey
    Ich war gerade spazieren und bin auf den Aufkleber, der zu deinem Blog führt, gestoßen. Das war wie ein Zeichen von Universum. Mein Vater hatte ebenfalls ein Alkoholproblem und das hat alle meine Beziehungen erheblich beeinflusst.
    Jetzt treffe ich mich mit einem Mann, zu dem ich mich hinzugezogen fühle, das ist gerade der Anfang, aber die Verlustängste machen mich einfach zu schaffen und lassen mich oft nicht das Zussamensein genießen und wenn er sich mal 1 Tag nicht meldet, habe ich richtige Panik:(
    Aber es tat gut zu lesen, dass ich mit meinem Problem nicht alleine bin. Danke dir für deinen Blog!

  2. Liebe Lena,

    Kommentare wie deiner motivieren mich dazu, diesen Blog zu betreiben: Ich möchte, dass andere Kinder alkoholkranker Eltern wissen, dass sie nicht allein sind mit den Dingen, die sie fühlen. Ich wünsche dir, dass es dir mit deiner Verlustangst bald besser gehen wird und du einen Weg findest liebevoll damit umzugehen!

    Liebe Grüße,
    Alina

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