Wie wir die Unberechenbarkeit unserer Kindheit noch heute in uns tragen

In einem Moment albert Vater mit uns herum, im nächsten schreit er und schmeißt mit Gegenständen um sich. Gerade verhält sich unsere Mutter noch ganz normal, plötzlich wird sie rührselig und weint.

Mal fröhlich, mal aggressiv, mal emotional. Wenn die Eltern trinken, stehen plötzliche Stimmungswechsel an der Tagesordnung. Das hat Auswirkungen auf uns Kinder, die uns bis ins Erwachsenenalter begleiten.

Wenn die Eltern trinken, wird der Alltag für die Kinder unberechenbar

Der Alltag von uns Kindern von alkoholkranken Eltern ist durch Unberechenbarkeit geprägt.

Sind Mutter oder Vater betrunken, wenn wir von der Schule kommen? Wie werden sie wohl aufgelegt sein? Und bleibt ihre Stimmung stabil? Oder wird sie plötzlich umschlagen?

Eigentlich muss man immer auf der Hut sein. Richtig sicher fühlt man sich selten.

Wenn die Eltern trinken, reagieren sie immer wieder unterschiedlich auf die Bedürfnisse von uns Kindern. Ist kein Alkohol geflossen, sind sie für uns da. Wenn Vater oder Mutter trinken, werden die Reaktionen jedoch unvorhersehbar.

Wenn es einen nicht-trinkenen Elternteil gibt, kann dieser entstehende Schäden im besten Fall (zumindest teilweise) auffangen. Oft sind jedoch auch sie so mit der Sucht des Partners bzw. der Partnerin beschäftigt, dass die Bedürfnisse von uns Kindern ungewollt zweitrangig werden.

In manchen Fällen gelingt Eltern der emotionale Rückhalt überhaupt nicht mehr. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn…

… die Sucht schon so weit vorangeschritten ist, dass es keine nüchternen Phasen mehr gibt

… beide Elternteile alkoholabhängig sind

… kein/wenig Kontakt zum nicht-trinkenden Elternteil besteht

Was die Bindungstheorie über uns verrät

Heutzutage nimmt man an, dass frühe problematische Erfahrungen, die wir mit engen Bezugspersonen machen, zu späteren Bindungsproblemen führen.

Laut der Bindungstheorie, die vor allem auf John Bowlby und Mary Ainsworth zurückgeht, entwickelt jeder Mensch in der Kindheit also ein mentales Modell für enge Beziehungen. Wie eine Art Skript gibt es uns vor, wie wir uns in späteren Freund- und Partnerschaften verhalten.

Wachsen Kinder in einem Elternhaus auf, in dem sie sich sicher und geborgen fühlen, entwickeln sie einen sicheren Bindungsstil. Als Erwachsene gehen sie gesunde Beziehungen ein. Denn sie haben weder Schwierigkeiten damit, Nähe herzustellen, noch große Angst vor Zurückweisung.

Verhalten sich Eltern wechselhaft oder geben überhaupt keinen emotionalen Rückhalt, entwickeln Kinder ängstliche und vermeidende Verhaltensweisen. Diese Bindungsstile gehen im Erwachsenenalter mit verschiedenen Bindungsproblemen einher.

Aufgrund der Unberechenbarkeit in unserer Vergangenheit, kämpfen wir erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern oft mit Vertrauensproblemen und der Angst vor Intimität. Kein Wunder, dass wir in Beziehungen unzufriedener sind als erwachsene Kinder von nicht-alkoholkranken Eltern.

Eine kleine Hilfe für den Alltag

Erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern fühlen eine schier überwältigende Angst vor Kontrollverlust. Wir sehnen uns nach Stabilität. Eine Möglichkeit, diese in Partnerschaften herzustellen, sind Rituale.

Rituale sind gemeinsam geschaffene Handlungen, die eine bestimmte Bedeutung für ein Paar haben. Das können zum Beispiel das Verwenden von Kosenamen, das regelmäßige Senden liebevoller Textnachrichten oder gemeinsames Tanzen sein.

Die Forschung hat gezeigt, dass diese Rituale eine Menge positive Auswirkungen auf Beziehungen haben. Sie stellen ein Gefühl der Verbundenheit her, weshalb sich Paare mit gemeinsamen Ritualen schneller von Konflikten erholen.

Selbst kleine Rituale, wie einmal wöchentlich zusammen eine Reality-TV-Show sehen, erhalten und stärken Zugehörigkeitsgefühle und Intimität in einer Beziehung.

Doch Vorsicht: Eine aktuelle Studie weist darauf hin, dass nicht alle Menschen gleichermaßen von Ritualen profitieren. Bei Menschen mit hohem Autonomiestreben lösen solch Rituale möglicherweise Unbehagen aus.

Diejenigen unter euch, die mit Angst vor Zurückweisung und der Angst vorm Verlassen werden kämpfen, können Rituale jedoch nutzen, um sich Partner:innen auf beständige Art und Weise nahe zu fühlen.

Gemeinsame Rituale tragen also besonders für ängstliche erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern zu gesunden romantischen Beziehungen bei und sind mit einer höheren Zufriedenheit in der Beziehung verbunden.

Rituale sind mit Sicherheit kein Allheil-Wundermittel, geschweige denn ein Therapie-Ersatz. Doch möglicherweise können wir uns damit etwas zurückholen, was uns als Kind fehlte: Stabilität und Vorhersehbarkeit in einer bedeutsamen Beziehung.

Quellen

The relationship between need for control, attachment style, and relationship satisfaction among adult children of alcoholics

The Impact of Using Intimacy Rituals and Romantic Attachment on Satisfaction Among Romantic Couples

Stangl-Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik (2022, 12. August): Bindungsstil 

Dorsch-Lexikon (2022, 12. August): Bindungstheorie

Familienkrankheit Alkoholismus: Im Sog der Abhängigkeit

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