Krieg. 9/11. Der Tsunami in Thailand an Weihnachten im Jahr 2004. Das sind Ereignisse, an die ich denke, wenn das Wort Trauma fällt. Auch wenn diese Ereignisse ohne Zweifel traumatische Erlebnisse darstellen, ist das Verständnis von einem Trauma als große Katastrophe zu kurz gegriffen. Traumatisierungen passieren auch im Kleinen. Und vor allem: Traumatisierungen passieren auch den Kleinen.
Wenn Eltern zu viel Alkohol trinken, kann das für Kinder traumatisch sein. Die Folgen der kindlichen Traumatisierung werden nicht unbedingt sofort sichtbar. Nicht jedes Kind wird auffällig; signalisiert, dass etwas nicht stimmt. Die Symptome der Traumatisierung zeigen sich dann womöglich im Erwachsenenalter.
Entsteht ein Trauma, wenn Eltern zu viel trinken?
In der Medizin versteht man unter einem Trauma eine Verletzung, die durch äußere Gewalteinwirkung am lebenden Gewebe entstanden ist. Ein Trauma ist also eine Wunde. In der Psychologie versteht man ein Trauma ähnlich. Nur handelt es sich bei der Wunde nicht um eine körperliche, sondern um eine seelische.
Sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen werden in Deutschland mit Hilfe der 10. Version der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (kurz: ICD-10), erfasst. Die ICD-10 gibt genau vor, welche Kriterien erfüllt werden müssen, damit eine Erkrankung diagnostiziert werden kann. Dieses Klassifikationssystem ist also einer der wichtigsten Begleiter von Psychologen und Psychologinnen.
Die ICD-10 definiert ein Trauma als belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Ein schwerer Verkehrsunfall, ein Angriff, der grausame Tod einer geliebten Person und noch vieles mehr können für einen Menschen traumatische Erlebnisse sein. Auch Dinge, die Kinder erleben, wenn ihre Eltern zu viel Alkohol trinken, fallen unter Umständen in die Kategorie Trauma (z.B. körperliche und sexuelle Gewalt).
Die weitreichenden Folgen eines Traumas
Posttraumatische Belastungsstörung
Als Folge eines erlebten Traumas können – müssen aber nicht – verschiedene Erkrankungen entstehen. Die bekannteste von ihnen ist die Posttraumatische Belastungsstörung (kurz: PTBS). Menschen mit PTBS können ein traumatisches Ereignis nicht einfach hinter sich lassen. Denn es drängt sich ihnen immer wieder durch extrem lebhafte, aufdringliche Erinnerungen oder Alpträumen auf.
In solchen Momenten hören, riechen, schmecken, fühlen und sehen Betroffene Dinge, die sie in der traumatischen Situation erlebten, noch einmal in gleicher Intensität. Das geht mit starken oder überwältigenden Emotionen, insbesondere Angst oder Entsetzen, und starken körperlichen Empfindungen einher.
Abgesehen von diesen Flashbacks fühlen Betroffene sich abgestumpft, betäubt. Aktivitäten und Personen, die ihnen vor dem Erlebnis wichtig waren, fühlen sich plötzlich bedeutungslos an. Sie möchten weder an das traumatische Ereignis denken noch daran erinnert werden. Manche vermeiden deshalb sogar Aktivitäten, Situationen oder Personen, die mit dem Ereignis bzw. den Ereignissen in Verbindung stehen. Darüber hinaus fühlen sich Betroffene nie sicher. Sie können nicht mehr schlafen, sind ständig auf der Hut und erschrecken sich schnell.
Traumatische Ereignisse im Sinne der ICD-10 stehen häufig mit extremer Gewalt, Verletzungen und Todesangst in Verbindung. Außerdem wird der Symptombeginn auf wenige Wochen bis Monate nach Erleben des Traumas festgelegt. Auch, wenn Kinder alkoholkranker Eltern per Definition also ein Trauma erlebt haben, erhalten sie die Diagnose als Erwachsene wohl eher selten.
Die genannten Diagnosekriterien wurden jedoch mit der ICD-11, der die ICD-10 in Zukunft ablösen soll, überarbeitet. Neben einer überarbeiteten, breiteren Trauma-Definition ist in der ICD-11 auch ein variabler Zeitpunkt des Symptombeginns festgelegt. Außerdem unterscheidet die ICD-11 eine weitere Form der Belastungsstörung: die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kurz: komplexe PTBS).
Komplexe posttraumatische Belastungsstörung
Eine komplexe PTBS entsteht laut ICD-11 oft bei anhaltenden oder sich wiederholenden Ereignissen (z. B. anhaltende häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Missbrauch). Ein Entrinnen aus der Situation ist für Betroffene schwierig bis unmöglich.
Neben den typischen Symptomen einer PTBS haben sie Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Gefühlen. Beziehungen fallen ihnen schwer. Sie kämpfen mit Schuld- und Schamgefühlen, fühlen sich minderwertig oder gar vollständig wertlos. Der Leidensdruck ist enorm. Die Symptome führen dementsprechend zu Beeinträchtigungen im alltäglichen Leben, z.B. im Beruf oder in der Familie.
Erst kürzlich gewährte eine polnische Studie Einblicke darin, wie das tägliche Funktionieren von erwachsenen Kindern alkoholkranker Eltern durch eine (komplexe) PTBS beeinflusst wird. Dabei erfüllten 7.6 Prozent die Diagnosekriterien einer PTBS und 6.9 Prozent die Diagnosekriterien einer komplexen PTBS.
Eltern trinken zu viel Alkohol: ein Kindheitstrauma entsteht
Zumindest nach dem aktuellen Definitionsverständnis sind also nicht alle (erwachsenen) Kinder alkoholkranker Eltern automatisch traumatisiert. Denn laut der ICD-10 werden Traumata eher als akut lebensbedrohliche Ereignisse für einen selbst oder nahestehende Personen verstanden.
Sind Kinder alkoholkranker Eltern, die keine körperlichen oder sexuellen Gewalterfahrungen an sich oder Familienmitgliedern erleben mussten, also nicht traumatisiert? Die Antwort lautet JEIN.
Denn mit Sicherheit sind wir nicht vor belastenden Kindheitserfahrungen verschont geblieben. Im Fachjargon spricht man hier auch von Adverse Childhood Experiences. Neben körperlichem und sexuellem Missbrauch fallen darunter
- Emotionaler Missbrauch
- emotionale und körperliche Vernachlässigung
- elterlicher Substanzmissbrauch
- psychische Erkrankung
- Gewalt zwischen den Eltern
- kriminelles Verhalten eines Elternteils.
Diese Erfahrungen werden auch als Kindheitstraumata bezeichnet. Sie führen zu langfristigen psychischen Folgen bis weit ins Erwachsenenalter. Betroffene Kinder leiden später häufiger an Depression, Angststörungen und neigen zu einem riskanten Substanzkonsum.
Wenn Eltern zu viel Alkohol trinken, entsteht also ein Kindheitstrauma. Mitunter sind solche Erfahrungen der Grund, warum Kinder von alkoholkranken Eltern später selbst häufig substanzabhängig werden.
Die Wunden heilen
Früher habe ich mich oft gefragt, was mit mir nicht stimmt. Die richtige Frage wäre jedoch gewesen:
Was ist mir passiert?
Vor dem großen Wort Trauma bin ich lange zurückgeschreckt. Und genau das halte ich mittlerweile für ein Problem. Denn das Vermeiden des Begriffs verharmlost die Realität von uns Kindern alkoholkranker Eltern.
Dabei haben wir, zumindest meiner Erfahrung nach, bereits die Neigung, die eigenen Verletzungen kleinzureden (Hand aufs Herz, wer von euch hat noch nicht einmal etwas gesagt wie „anderen ging es noch viel schlechter als mir“?). Eine unbehandelte Wunde kann sich jedoch infizieren. Etwas, das man hätte heilen können, wenn man hingeschaut hätte, macht einen dann plötzlich richtig krank.
Der Begriff Trauma erlaubt es einem, sich etwas zuzugestehen, was man sich lange nicht getraut hat. Nämlich, dass einem etwas sehr, sehr Schlimmes passiert ist. Letztlich ist es egal, ob die offizielle Trauma-Definition auf uns zutrifft oder nicht. Wichtig ist, wie es sich für uns anfühlt – und in wem von uns hat das Erlebte denn keine tiefe Verzweiflung ausgelöst?
Ich kann jedem erwachsenen Kind alkoholkranker Eltern nur raten, sich unbedingt professionelle Hilfe zu suchen. Denn: ES GIBT AUSWEGE. Psychotherapie wirkt. Die Chancen, aus dem Leiden herauszukommen, die eigenen Wunden zu heilen, stehen wirklich, wirklich gut.
Quellen:
Traumafolgestörungen in ICD-10, ICD-11 und DSM-5
Traumatisierung und Depression, Abschnitt Belastende Kindheitserfahrungen und Depression.