Wenn Liebe zur Sucht wird: Warum Kinder alkoholkranker Eltern in toxischen Beziehungen verharren

Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Moment vor einigen Jahren als ich ziemlich verzweifelt vor meiner Therapeutin saß. Wieder einmal ging es um die Liebe.

Während meine Freund:innen scheinbar mühelos langjährige und erfüllende Beziehungen führten, fand ich mich selbst in einer unglücklichen Partnerschaft wieder.

Obwohl ich tief in mir wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, gelang es mir einfach nicht, die toxische Beziehung zu beenden. In meiner Sitzung fragte ich sie also:

Was zur Hölle stimmt denn nicht mit mir?!

Dabei ist das Festhalten an Beziehungen unter Kindern alkoholkranker Eltern laut Selbsthilfe-Literatur keine Seltenheit. In diesem Blogbeitrag teile ich deshalb meine Erfahrungen, spreche über mögliche Folgen einer solchen Dauerbelastung und liefere mögliche Erklärungen für unser Verhalten.

Warum die Liebe nicht gelingen will

Obwohl jede Beziehung anders ist, gibt es auch in der Liebe wiederkehrende Muster. So lassen sich Menschen laut der Bindungstheorie in verschiedene Beziehungstypen einordnen.

Wenn wir als Kinder sichere und vertrauensvolle Bindungen zu unseren Eltern aufbauen konnten, haben wir auch als Erwachsene eine positive Einstellung zu Beziehungen und können sie als sicher und erfüllend empfinden.

Wenn unsere Kindheit jedoch von unsicheren oder sogar traumatischen Erfahrungen geprägt war, können wir als Erwachsene zu ungesunden Bindungsmustern neigen, wie zum Beispiel übermäßiger Vermeidung oder übertriebener Verlustangst und Anhänglichkeit.

Unser Bindungsstil beeinflusst dabei nicht nur, wie wir uns in einer Partnerschaft verhalten, sondern auch, wen wir überhaupt für eine Liebesbeziehung in Betracht ziehen.

So kommen Homes & Johnson in ihrer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2009 zum Schluss, dass sich sicher Gebundene eher mit ähnlich sicher-gebundenen Personen zusammentun, wohingegen ängstlich-gebundene Personen eher vermeidende Personen wählen und vice versa.

Wir wollen bestehende Überzeugungen bestätigen

Dieses Ergebnis wird damit erklärt, dass Menschen das unterbewusste Bedürfnis haben, bestehende Überzeugungen über sich selbst und andere aufrechtzuerhalten – selbst dann, wenn diese negativ ist.

Menschen mit ängstlichem Bindungsstil suchen in vermeidenden Partner:innen demnach unbewusst nach einer Bestätigung der eigenen Überzeugung, nicht liebenswert zu sein.

Mit ihrem hohen Nähebedürfnis bestätigen ängstlich Gebundene wiederum die negative Erwartung vermeidender Personen, andere Menschen seien anhänglich und bedürftig.

Daraus entwickelt sich schnell eine Beziehungs-Dynamik, die von extremen Hochs und um so tieferen Tiefs geprägt ist. Hat man keine konkrete Vorstellung davon, wie sich eine gesunde Partnerschaft anfühlen sollte, verwechselt man die damit einhergehenden intensiven Gefühle schnell mit der großen Liebe.

Na ja, zumindest tat ich das.

Doch dabei musste ich leider immer wieder eins feststellen: egal, wie sehr ich es mir wünschte, egal, wie sehr ich es versuchte – das, was ich wirklich brauchte, fand ich in solchen Beziehungen nie: Stabilität.

Denn zu einer gesunden Beziehung gehört viel mehr als nur Liebe: Sie beruht auf einem Gefühl der Sicherheit, gegenseitigem Respekt, Wertschätzung und guter Kommunikation.

Man muss in der Lage sein, eigene Bedürfnisse zu erkennen und einzufordern, Grenzen zu setzen und gesetzte Grenzen zu respektieren, man muss fähig sein, gesunde Konflikte auszuhalten und seine Emotionen zu regulieren.

All das waren Fähigkeiten, die mir persönlich gänzlich fehlten.

Wie dysfunktionale Beziehungen unser Wohlbefinden beeinflussen

Aufgrund ihrer Erfahrungen verhalten sich erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern oft ängstlich und vermeidend in Beziehungen, und laut einer Meta-Analyse von Candel & Turliuc aus dem Jahr 2019 sind es gerade die unsicher Gebundenen, die weniger zufrieden in ihren Partnerschaften sind.

Anstatt aufgrund ihrer Unzufriedenheit Schluss zu machen, verharren sie. Doch gerade dieses verbissene Festhalten an unbefriedigenden Beziehungen kann schwerwiegende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben.

So fanden beispielsweise Baker und Kollegen in ihrer im Jahr 2000 veröffentlichten Untersuchung heraus, dass eine erfüllende Ehe leichten Bluthochdruck positiv beeinflusst. Das Zusammensein mit dem Partner senkte diesen auf gesündere Werte.

War die Ehe hingegen nicht zufriedenstellend, erhöhte partnerschaftlicher Kontakt den Blutdruck – und zwar so lange, wie sich dieser in der Nähe befand. Der Körper reagiert mit Stress auf den Partner.

Kurz- und Langzeitfolgen von Stress

Stress, wie er in Bakers Untersuchung durch den Partner ausgelöst wurde, kann kurzfristig zu Kopfschmerzen, Verspannungen und Schlafstörungen führen.

Hält die Belastung an, können auch chronische bzw. wiederkehrende körperliche Erkrankungen, wie Magen-Darm-Probleme, Magengeschwüre oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auftreten.

Menschen, die unter Dauerstress stehen, leiden zudem eher unter Angst- und Panikzuständen und Depressionen. Manchen gelingt das kurzzeitige Abschalten nur mit dem Griff zu Alkohol oder anderen Drogen. Das wiederum ist ein Risikofaktor für die Entstehung einer Abhängigkeit.

Eine dysfunktionale Beziehung stellt also eine Dauerbelastung dar, die für uns fatale gesundheitliche Konsequenzen haben kann. Doch wieso sind Kinder alkoholkranker Eltern so gut darin, den Status Quo auszuhalten? Warum beenden wir die toxische Beziehung nicht?

Warum Kinder von alkoholkranken Eltern in toxischen Beziehungen verharren

Die Gründe, die einen dazu bewegen in einer dysfunktionalen Beziehung auszuharren, können von Person zu Person unterschiedlich sein. In meiner Therapie fand ich heraus, welche Faktoren mich persönlich darin festhielten.

Wie die meisten Menschen auch, mag ich alles, was sich vertraut anfühlt. Selbst dann, wenn es mir nicht guttut. Und dysfunktionale Beziehungen fühlten sich für mich sehr vertraut an.

Einerseits lebte meine Mutter mir mit ihrem ebenfalls substanzmissbrauchenden Partner ungesunde Beziehungsmuster täglich vor. Kam dieser nachts alkoholisiert und streitlustig nach Hause, war die Eskalation vorprogrammiert.

Gleichzeitig geriet das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir suchtbedingt völlig aus den Fugen. Ich nahm für mein Alter unangemessene Rollen an und fühlte mich dafür verantwortlich, ihren Konsum zu verhindern.

In meiner Kindheit lernte ich auch, unerträgliche Zustände auszuhalten. Damals hatte keine andere Wahl. Als handlungsfähige Erwachsene führte ich dieses Verhaltensmuster unbewusst einfach weiter.

Mein Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit war dabei so groß, dass ich meine Augen vor sämtlichen Warnsignalen verschloss. Inakzeptable Verhaltensweisen rationalisierte ich entweder oder gab mir die Schuld dafür.

Toxische Beziehung beenden und belohnt werden

Durch meine Therapie lernte ich, dass ich nicht wusste, wie eine gesunde Beziehung aussieht, geschweige denn, wie man eine erkennt. Für mich bedeutete Liebe, sämtliche Grenzüberschreitungen zu verzeihen.

Durch meinen niedrigen Selbstwert dachte ich außerdem, dass die Welt nicht mehr für mich bereithält, als die dysfunktionalen Beziehungen, die ich führte. Was für ein Trugschluss!

Denn meine Therapeutin sollte Recht behalten, als sie mir auf meine eingangs gestellte Frage folgendes antwortete:

Stellen Sie sich die Fähigkeit, eine funktionierende Beziehung zu führen wie einen Marathon vor, bei dem Sie einige Kilometer hinter der Startlinie anfangen. Das macht es nicht unmöglich, das Rennen zu beenden, aber schwieriger.

Wie für einen Marathon können wir unsere Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden trainieren. Wir können unsere Liebes-Muskeln stärken und so unseren Nachteil Stück für Stück aufholen.

Ich kann aus Erfahrung sagen: es funktioniert wirklich.


Welche Erfahrungen habt ihr damit gesammelt, eine toxische Beziehung zu beenden? Welche Lernerfahrungen habt ihr dabei gemacht? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!


Quellen

Partner:innenpräferenz abhängig vom Bindungsstil: Holmes, B. M. & Johnson, K. R. (2009). Adult attachment and romantic partner preference: A review. Journal of Social and Personal Relationships, 26(6-7), 833–852.

Beziehungszufriedenheit abhängig vom Bindungsstil: Candel, O.-S. & Turliuc, M. N. (2019). Insecure attachment and relationship satisfaction: A meta-analysis of actor and partner associations. Personality and Individual Differences, 147, 190–199.

Einfluss der Beziehung auf den Blutdruck: Baker, B., Paquette, M., Szalai, J. P., Driver, H., Perger, T., Helmers, K., O’Kelly, B. & Tobe, S. (2000). The influence of marital adjustment on 3-year left ventricular mass and ambulatory blood pressure in mild hypertension. Archives of internal medicine, 160(22), 3453–3458.

Auswirkungen von Stress: Bundesministerium für Gesundheit: Stress: Auswirkungen auf Körper und Psyche.

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