Armut und Sucht – das sind zwei Begriffe, die oft miteinander verbunden werden. Aber entspricht dieses Klischee der Wahrheit? Wie hängen Armut und Alkoholmissbrauch wirklich zusammen? Die Antwort ist vielschichtiger, als man denkt.
20.02.2025, 19:00 VON ALINA
Wenn Menschen an Alkoholsucht denken, haben sie oft ein ganz bestimmtes Bild im Kopf, wie den Obdachlosen an der Straßenecke mit der Flasche in der Hand. Die Gestalt, die am Rande der Gesellschaft steht.
Filme und Serien verstärken dieses Bild – wie die Figur Frank Gallagher in der Serie Shameless, der seine sechs Kinder sich selbst überlässt, während er unentwegt – und dabei völlig, naja, schamlos – dem nächsten Rausch hinterher jagt.
Auch Bücher wie Shuggie Bain oder Säuferkind erzählen dramatische Geschichten von Kindern, die in Armut und mit alkoholkranken Eltern aufwachsen und früh lernen müssen, dass sie sich nicht auf die Erwachsenen in ihrem Leben verlassen können.
Doch wie realistisch ist dieses Bild eigentlich? Steckt hinter dieser Vorstellung eine allgemeine Wahrheit, oder handelt es sich eher um mediale Dramatisierungen und besonders schwere Einzelfälle?
Alkohol: Der Zusammenhang von Sucht und Armut
Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Alkoholsucht und Armut viel komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. So zeigen Studien, dass Menschen mit höherem sozioökonomischen Status genauso viel und mehr Alkohol konsumieren als von Armut betroffene Menschen.
Doch warum scheint die Verbindung zwischen Alkoholsucht und Armut trotzdem so stark? Die Antwort liegt weniger im Konsum selbst als in seinen Folgen: Die gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen treffen ärmere Menschen deutlich härter.
Ärmere Menschen sind eher süchtig
Während Menschen mit höherem Einkommen aufgrund ihrer Lebensumstände besser vor den negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums geschützt sind, leiden Menschen mit finanziellen Schwierigkeiten häufiger an Suchterkrankungen und deren Folgen.
Besonders gefährdet sind sozial benachteiligte Gruppen, die oft unter schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen und sozialer Isolation leiden – eine Kombination, die das Leben schnell in eine Abwärtsspirale reißen kann.
In Regionen mit absoluter Armut, etwa in Entwicklungsländern oder Teilen Osteuropas, ist der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen besonders hoch, oft als Flucht aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit.
Auch in Deutschland zeigt sich diese Verbindung, besonders in urbanen Drogenszenen oder bei Obdachlosen. Für viele wird Alkohol zu einem Mittel, um dem Alltag zu entfliehen.
Ärmere Menschen verzichten eher vollständig auf Alkohol
Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn in Studien zeigt sich ein Muster, über das nur sehr selten gesprochen wird: Menschen mit niedrigem Einkommen tendieren sowohl zu einem hohen Alkoholkonsum – als auch zu vollständiger Abstinenz.
Für viele Menschen in Armut wird der Verzicht auf Alkohol zu einer Notwendigkeit, da das Geld für dringendere Ausgaben wie Miete, Lebensmittel oder Kinderbetreuung gebraucht wird. In Haushalten, in denen ohnehin kaum Geld zur Verfügung steht, wird Alkohol oft als unnötiger oder unerschwinglicher Luxus betrachtet.
Wer in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen lebt, muss oft sehr genau haushalten und kann sich ein Verhalten, das finanzielle oder gesundheitliche Folgen hat, schlichtweg nicht leisten. Besonders Frauen in schwierigen finanziellen Verhältnissen verzichten häufiger komplett auf Alkohol.
So entsteht eine paradoxe Situation: Während Armut für einige Menschen das Risiko eines problematischen Alkoholkonsums erhöht, wird sie für andere zum Schutzfaktor. Finanzielle Einschränkungen, soziale Verantwortung und auch kulturelle Normen tragen dazu bei, dass gerade Menschen in schwierigen Lebenslagen häufiger vollständig auf Alkohol verzichten.
Alkoholismus ist ein Risikofaktor für Arbeitslosigkeit
Jetzt bleibt noch die Frage, ob Alkoholsucht Ursache oder Folge von Arbeitslosigkeit – und der damit einhergehenden Armut – ist. Auch diese Frage wird oft vereinfacht und stereotyp dargestellt.
In den Medien wird häufig behauptet, dass Arbeitslosigkeit in die Alkoholabhängigkeit führt, während in der Wissenschaft lange Zeit die Ansicht herrschte, dass Alkoholismus stets die Ursache von Arbeitslosigkeit sei.
Letztere Sichtweise hat tiefe historische Wurzeln. Früher galt „Trunksucht“ oft als Ausdruck persönlichen Versagens oder moralischen Verfalls, und Menschen mit Suchtproblemen wurden lange Zeit als „schuldige“ Verursacher ihrer Armut betrachtet.
Besonders drastisch waren die Konsequenzen im NS-Regime, wo Suchtkranke mit Eheverboten und Zwangssterilisationen belegt wurden, da ihr Verhalten als „genetischer Defekt“ angesehen wurde. Doch auch noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich diese Stigmatisierung hartnäckig.
In den 1970er Jahren verfestigte sich parallel dazu das Bild vom sogenannten „Wohlstandsalkoholismus“ – die Vorstellung, dass Sucht ein Phänomen der Überflussgesellschaft sei. Armut als ein möglicher Auslöser von Sucht blieb dabei weitestgehend unbeachtet.
Und es stimmt: Heute weiß man, dass Alkoholsucht das Risiko für Arbeitslosigkeit erhöhen kann. Abhängigkeit kann zu Problemen am Arbeitsplatz führen, die für manche Suchtkranke den Verlust des Jobs bedeuten.
Dieses Risiko hängt vor allem vom Chronifizierungsgrad der Alkoholproblematik ab, also:
- vom Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigungen,
- von der Arbeitsleistung,
- von der Häufigkeit der (unentschuldigten) Fehlzeiten,
- sowie von der schulischen und beruflichen Qualifikation und der Dauer der Betriebszugehörigkeit.
Doch auch hier wird wieder nur ein Aspekt der Situation beleuchtet.
Arbeitslosigkeit ist ein Risikofaktor für Alkoholismus
Die Aussage, dass Alkoholismus Menschen in die Armut treibt, ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn Arbeitslosigkeit ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung und Verschärfung von Alkoholproblemen.
Studien zeigen, dass Menschen, die bereits mit finanziellen oder sozialen Belastungen kämpfen oder Alkohol zur Stressbewältigung nutzen, nach Eintritt von Arbeitslosigkeit häufiger zu problematischem Konsum neigen.
Langzeituntersuchungen zeigen sogar einen Zusammenhang zwischen steigenden Arbeitslosenraten und einem höheren Pro-Kopf-Alkoholkonsum, sowie einer Zunahme alkoholbedingter Todesfälle durch Leberzirrhose.
Zusätzlich deuten Studien mit alkoholabhängigen Patienten darauf hin, dass Arbeitslosigkeit den Verlauf der Sucht oft verschlimmert und das Rückfallrisiko nach Therapien signifikant erhöht.
Der Grund für das gesteigerte Suchtrisiko durch Armut liegt vor allem in den tiefgreifenden psychosozialen Folgen, die Betroffene in dieser Situation erleben. Der Verlust des Jobs kann starken Selbstwertverlust hervorrufen und das Gefühl, nicht mehr „dazuzugehören“, verstärken.
Finanzielle Sorgen kommen hinzu und belasten den Alltag. Die Angst vor der Zukunft wächst. Diese Unsicherheiten und Spannungen führen oft auch zu Konflikten im familiären Umfeld, da die Belastungen auf alle Beteiligten übergreifen.
In dieser Mischung aus sozialer Isolation, emotionalem Druck und existenziellen Ängsten steigt für viele der Drang, zum Alkohol zu greifen – sei es, um kurzfristig Erleichterung zu finden, das Selbstwertgefühl zu stärken oder die inneren Spannungen für einen Moment zu betäuben.
Es gibt also keine einfache Antwort auf die Frage, ob Armut zur Alkoholsucht führt oder ob die Sucht Menschen in die Armut treibt. Beide Wege sind möglich und treten in der Realität oft nebeneinander auf.
Sucht und Armut haben weitreichende Folgen für die Kinder von Betroffenen
Kinder suchtkranker und in Armut lebender Eltern sind oft einer doppelten Belastung ausgesetzt, die ihr Wohlbefinden tiefgreifend beeinflussen kann. Neben den Herausforderungen durch die elterliche Suchterkrankung – wie erhöhter Gewaltgefahr, Missbrauch und familiärer Dysfunktion – müssen sie zusätzlich die Belastungen der Armut bewältigen.
Eine Übersichtsarbeit von Chaudry und Wimer (2016) verdeutlicht die schwerwiegenden Folgen, die allein letzteres für Kinder hat: Demnach hat Armut kausale Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung, insbesondere auf kognitive und schulische Leistungen.
Kommt dann noch die elterliche Suchterkrankung hinzu, ist die Katastrophe oft vorprogrammiert. Die ohnehin belastenden Lebensbedingungen verschärfen sich weiter, da die Kinder nicht nur unter finanziellen und sozialen Einschränkungen leiden, sondern auch unter den instabilen und oft traumatischen Verhältnissen, die eine Suchterkrankung mit sich bringt.
Im schlimmsten Fall flüchten sich die Kinder zum einzigen Ort, der ihnen noch bleibt, um den Spannungen zu Hause zu entkommen: die Straße. Zwar ist die „Flucht nach draußen“ nicht allein auf Armut beschränkt, tritt jedoch in sozioökonomisch schwächeren Familien häufiger auf.
Das ist vor allem damit zu erklären, dass Familien mit mehr finanziellen Mitteln Krisen besser abfedern können – sei es durch schulische Unterstützung oder organisierte Freizeitangebote. Jugendliche aus wirtschaftlich benachteiligten Familien fehlt es hingegen an solchen Ressourcen, sodass die Straße für sie zur einzigen Alternative wird.
Für viele dieser Jugendlichen bedeutet die Straße auch eine Form der Selbstbestimmung – eine Möglichkeit, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. In Straßencliquen finden sie Gemeinschaft, Rückhalt und eine neue soziale Identität.
Drogen sind hier oft allgegenwärtig, sei es als Bewältigungsstrategie oder als Fortführung der Muster, die sie bereits zu Hause erlebt haben – der perfekte Nährboden für einen sich fortsetzenden Suchtkreislauf.
Sucht und Armut: Zwischen Realität und Klischee
Die Frage, ob das stereotye Bild des verarmten Alkoholsüchtigen der Realität entspricht, lässt sich nicht nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Zwar gibt es Menschen, deren Leben von Armut und Alkoholmissbrauch geprägt ist. Doch die Fakten zeigen, dass es sich dabei nicht um eine universelle Realität handelt.
Denn gleichzeitig existiert ein oft unbeachtetes Gegenbild: Armut kann auch zur vollständigen Abstinenz führen. Das verbreitete Bild des heruntergekommenen Alkoholikers am Rand der Gesellschaft greift also zwar reale Probleme auf, blendet aber andere wichtige Perspektiven aus.
Nicht jede:r Alkoholabhängige:r lebt in Armut, und nicht jede Person in Armut greift zur Flasche. Menschen aus allen sozialen Schichten können einen hohen Alkoholkonsum betreiben – doch die negativen Folgen treffen sozial Schwächere unverhältnismäßig härter.
Mediale Darstellungen konzentrieren sich oft auf extreme Fälle, die einerseits erschüttern, andererseits jedoch Gefahr laufen, Stereotype zu verstärken. Solche Geschichten lenken den Blick auf die dramatischen Auswirkungen von Armut und Sucht auf Familien und Kinder, lassen aber wenig Raum für die leisen, alltäglichen Kämpfe derjenigen, die mit weniger spektakulären, aber ebenso belastenden Problemen ringen.
Die Auseinandersetzung mit diesen Themen zeigt, dass es keine einfache Wahrheit gibt, sondern eine Vielzahl von Lebensrealitäten. Hinter jedem Suchtproblem steckt eine individuelle Geschichte – oft geprägt von psychischem Druck, sozialer Isolation und dem Versuch, mit existenziellen Herausforderungen umzugehen. Und auch diese Geschichten verdienen es, jenseits von Klischees erzählt und verstanden zu werden.
Quellen:
Der Zusammenhang von Alkoholsucht und Armut:
Henkel, D. (2010, July). Sucht und Armut: epidemiologische Zusammenhänge und präventive Ansätze. In Public Health Forum (Vol. 18, No. 2, pp. 35-38). De Gruyter.
Collins S. E. (2016). Associations Between Socioeconomic Factors and Alcohol Outcomes. Alcohol research : current reviews, 38(1), 83–94.
Henkel, D. (1998). „Die Trunksucht ist die Mutter der Armut“1 — zum immer wieder fehlgedeuteten Zusammenhang von Alkohol und Armut in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In: Henkel, D. (eds) Sucht und Armut. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Auswirkungen von Sucht und Armut auf die Kinder von Betroffenen:
Zink, G., Permien, H. (1998). Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen: City-Szenen und die Funktion von Drogen. In: Henkel, D. (eds) Sucht und Armut. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Chaudry, A., & Wimer, C. (2016). Poverty is Not Just an Indicator: The Relationship Between Income, Poverty, and Child Well-Being. Academic pediatrics, 16(3 Suppl), S23–S29. https://doi.org/10.1016/j.acap.2015.12.010