2.130 Schulen, unzählige E-Mails – und kaum Resonanz. Eine Plakataktion zur COA-Aktionswoche 2025 beantwortet die Frage, warum wir noch lauter werden müssen.
01.03.2025, 19:00 VON ALINA
Stille war das Signal. Keine Begrüßung, kein Fernseher, keine Geräusche aus der Küche. Nur dieses dumpfe Schweigen, das sich im Flur ausbreitete, sobald ich die Tür öffnete.
Dann wusste ich: Sie hatte getrunken.
Schon als Kind habe ich gelernt, Stimmungen zu lesen – an Blicken, an Stille, an der Art, wie jemand die Tür schloss. Ich wusste, wann ich unsichtbar sein musste.
Ich bin ein COA. Ein Child of an Addict. Und ich weiß, wie es ist, mit einem Geheimnis aufzuwachsen, das größer ist als jeder Raum. Ich weiß, wie Scham schmeckt. Wie Angst sich anfühlt, wenn sie zum Alltag wird.
Heute bin ich erwachsen. Doch noch immer gibt es Millionen Kinder wie mich. Kinder, die zwischen Angst und Geheimnissen aufwachsen. Zwischen der Sehnsucht nach Nähe und dem Wunsch zu verschwinden.
Viele sprechen nie darüber. Viele wissen nicht, dass sie nicht allein sind.
Genau deshalb gibt es die COA-Aktionswoche von NACOA. Dieses Jahr vom 16. bis 22. Februar 2025.
Eine Woche, um hinzusehen. Um das Schweigen zu brechen. Um Geschichten sichtbar zu machen.
Vereine, Schulen, Fachstellen, Einzelpersonen – sie alle organisierten Veranstaltungen, um Bewusstsein zu schaffen. Um Kindern eine Stimme zu geben, die sonst keine haben.
Und dieses Jahr wollte auch ich etwas tun.
Eine Plakataktion für betroffene Kinder
Laut werden in der COA-Aktionswoche
#ichwerdelaut – so lautete das Motto der diesjährigen COA-Aktionswoche. Ein Aufruf, das Schweigen zu brechen. Sichtbar zu machen, was im Verborgenen bleibt. Ein Zeichen zu setzen für all jene, die nicht wissen, wie sie ihre Stimme erheben können.
Genau das wollte ich tun. Aber wie wird man eigentlich laut für diejenigen, die noch im Stillen leiden?
Langsam formte sich eine Idee: ein Plakat. Nicht irgendeines, sondern eines mit den Worten von Menschen, die es selbst erlebt haben. Die wissen, welche Sätze sie als Kinder gebraucht hätten. Eine Sammlung von Stimmen, die heute laut sind – damit andere endlich gehört werden.
Und diese Worte sollten genau dort ankommen, wo sie gebraucht werden: in Schulen.
Die großen Herausforderungen: Botschaften sammeln und zahllose E-Mails

Zuversicht war mein Antrieb. Eine kleine Idee mit großer Wirkung. Ich war mir sicher, dass sie zünden würde – sie war doch so einfach, so zugänglich, so wichtig. Wer könnte da nein sagen?
Also startete ich einen Aufruf über Social Media. Fragte Menschen, die Ähnliches erlebt haben: Welche Worte hättet ihr als Kinder gebraucht?
Die Rückmeldungen waren überwältigend. Nachricht um Nachricht erreichte mich. Ehrliche, rohe, kraftvolle Botschaften. Ich sammelte sie, ordnete sie – und formte daraus ein Plakat.
Dann musste ich mich bereits der nächsten Frage widmen: Wie erreiche ich möglichst viele Schulen? Ich schrieb Schulämter an, bat sie, mein Anliegen weiterzuleiten.
Dann kam die Ernüchterung.
Wenn überhaupt eine Antwort kam, war sie klar: nein. Und mit jeder Absage wurde meine Idee ein Stück kleiner. Ein Stück unmöglicher.
Ich war enttäuscht. Scheitert es wirklich schon hier? Aber Aufgeben war keine Option. Ich musste einen anderen Weg finden.
Also suchte ich selbst. Stundenlang klickte ich mich durch das Internet, suchte nach Verzeichnissen, nach einer Möglichkeit, die Schulen direkt zu erreichen. Und dann – endlich! Die goldenen Listen. Schulverzeichnisse von den Bundesländern, mit E-Mail-Adressen.
Der Schlüssel zu meinem Ziel.
Ich atmete auf. Das Projekt war gerettet. Aber die nächste Hürde ließ nicht lange auf sich warten: das Versenden. Hunderte, tausende E-Mails mussten raus. Ich schrieb, verschickte, kopierte – bis zum Limit.
500 E-Mails pro Tag. Mehr ging nicht.
Und mit jeder versendeten Nachricht wuchs die Angst, dass sie im Nirgendwo landete, dass niemand sie las. Ich kämpfte gegen Spam-Filter, gegen Sendelimits, gegen die Zeit.
Denn die COA-Aktionswoche rückte näher. Und ich war noch nicht einmal annähernd durch.
Parallel suchte ich nach Abkürzungen, nach schnelleren Wegen. Versuchte zu tricksen, zu optimieren. Doch nichts funktionierte.
Mir blieb nur eins: Weitermachen. So viele E-Mails wie möglich, so schnell wie möglich.
21 Schulen machten mit
Bis zum Start der COA-Aktionswoche hatte ich über 2.130 Schulen kontaktiert. Ich war erschöpft, aber hoffnungsvoll – bei so vielen Anfragen mussten doch zahlreiche Rückmeldungen kommen, oder?
Ich stellte mir vor, wie mein Postfach sich füllte. Wie Zusagen eintrafen, Schulen das Plakat ausdruckten, es aufhängten – ein Zeichen setzten.
Doch dann: Stille.
Nur vereinzelt ploppte eine Antwort auf. Die Zahl der teilnehmenden Schulen wuchs quälend langsam.
Am Ende meldeten sich genau 21 Schulen zurück. Einundzwanzig. Das sind nicht einmal 1 Prozent.
Ich war enttäuscht. Hatte gehofft, dass mehr Schulen erkennen, wie viele Kinder betroffen sind. Wie dringend dieses Thema Sichtbarkeit braucht.
Doch genau hier liegt anscheinend das Problem: Das Bewusstsein für Kinder aus suchtbelasteten Familien fehlt noch immer. Die Chance, mit einer so einfachen Maßnahme ein Zeichen zu setzen, wurde von der großen Mehrheit nicht genutzt.
Ein riesiges Dankeschön an die teilnehmenden Schulen
Nachdem der erste Frust sich gelegt hatte, begann ich, das Positive zu sehen. 21 Schulen hatten sich bewusst entschieden, das Plakat aufzuhängen – ein Zeichen zu setzen. 21 Schulen, die das Thema sichtbar machten. Für ihre Schüler:innen, für ihre Lehrkräfte, für all jene, die vielleicht noch still leiden.
Und die Rückmeldungen, die ich von diesen Schulen bekam, waren unglaublich positiv. Dankbarkeit, Wertschätzung – und vor allem das Bewusstsein, dass Kinder und Jugendliche immer mehr Unterstützung brauchen.
Besonders berührt hat mich die Rückmeldung einer Präventionsbeauftragten, die entschied, das Plakat nicht nur an einer zentralen Stelle aufzuhängen, sondern in jedem einzelnen Klassenzimmer ihrer Schule. Sie wollte sicherstellen, dass möglichst viele Schüler:innen diese Botschaften sehen – auch diejenigen, die sich vielleicht nicht trauen, in der Öffentlichkeit stehenzubleiben und zu lesen.
Zusammen besuchen diese Schulen mehr als 8.200 Schüler:innen. Und wenn man bedenkt, dass jedes 5. bis 6. Kind in Deutschland aus einer suchtbelasteten Familie kommt, dann konnten durch diese Aktion schätzungsweise 1.360–1.640 betroffene Kinder erreicht werden.
Und das zählt.
Denn für diese Kinder könnte das Plakat der Moment gewesen sein, in dem sie realisierten: Ich bin nicht allein. Andere kennen das auch. Es gibt Worte für das, was ich fühle.
Und während des gesamten Aktionszeitraums erreichten mich Nachrichten von Menschen, die von meinem Plakat gehört hatten. Menschen, die aktiv auf mich zukamen, um das Projekt zu unterstützen, es weiterzutragen, ihre Netzwerke zu nutzen, um das Thema noch sichtbarer zu machen.
Diese Resonanz zeigte mir: Das Thema bewegt. Auch wenn viele Schulen nicht reagiert haben – die, die es getan haben, haben es mit echter Überzeugung getan.
Ja, ich hätte mir mehr Teilnehmende gewünscht. Viel mehr.
Aber gleichzeitig wusste ich: Diese 21 Schulen haben etwas verändert. Und dafür möchte ich ein riesiges Dankeschön aussprechen.
COA-Aktionswoche: Wir bleiben laut
Diese Aktion hat mir so viel gegeben – und gleichzeitig so viel gezeigt. Ich bin dankbar. Dankbar für jede einzelne Schule, die teilgenommen hat. Für jede Lehrkraft, die das Plakat aufgehängt hat. Für jede Person, die mich unterstützt oder ermutigt hat, weiterzumachen.
Aber während ich mich über das freue, was erreicht wurde, bleibt auch ein bitterer Nachgeschmack.
Ich habe mehr als 2.130 Schulen kontaktiert – und am Ende waren es 21, die mitgemacht haben. Knapp 1 Prozent.
Diese Zahl lässt mich nicht los. Sie zeigt, wie wenig Bewusstsein es für das Thema noch immer gibt. Und das ausgerechnet an Orten, an denen Kinder und Jugendliche tagtäglich begleitet werden. Dort, wo sie eigentlich geschützt, gesehen und unterstützt werden sollten.
Das dröhnende Schweigen, das viele Kinder aus suchtbelasteten Familien erleben, ist oft lauter als Worte. Kein offenes Gespräch, keine Anerkennung ihrer Not, keine Resonanz auf ihre Sorgen. Die Stille war auch hier das lauteste Signal.
Genau deshalb ist die COA-Aktionswoche so wichtig. Sie schafft Raum. Sie gibt Betroffenen eine Stimme. Sie ruft Jahr für Jahr ins Gedächtnis, dass wir nicht wegsehen dürfen.
Denn solange Kinder in suchtbelasteten Familien aufwachsen,
solange sie sich allein und unsichtbar fühlen,
solange sie nicht wissen, an wen sie sich wenden können –
solange müssen wir laut werden.