Warum ich meine trinkende Mutter nicht liebe

Wenn man süchtige Eltern hat, liegen Liebe und Schmerz nah beieinander. Das Gefühlschaos der Kinder spiegelt sich ganz besonders in ihrer Beziehung zum kranken Elternteil wider.

Diesem stehen sie oft sehr ambivalent gegenüber. Wie und ob sie ihre Liebe ausdrücken dürfen, ist zudem abhängig von den Erwartungen ihres Umfelds.

Süchtige Eltern: Zwei Personen in einem Körper

Als Kind alkoholabhängiger Eltern hat man eigentlich zwei Mütter bzw. Väter. Auch wenn sie sich den gleichen Körper teilen, könnten sie nicht unterschiedlicher sein.

Meiner nüchternen Mutter stand ich sehr nahe. Sie war meine ganze Welt. Mein sicherer Hafen. Ich liebte sie abgöttisch. Es hätte alles so schön sein können, wenn die Andere nicht wäre. Die Andere sah aus wie meine Mutter. Ansonsten teilten sie nichts miteinander.

Während meine Mutter lustig, aufgeweckt und liebevoll war, verhielt sich die Andere unberechenbar. Sie sprach mit seltsam hoher Stimme und lief torkelnd. Sie schlief viel, manchmal tagelang.

Die Zwei waren wie Dr. Jekyll und Mrs. Hyde. Die Andere nahm mir meine Mutter weg, jeden Tag ein bisschen mehr, und dafür verabscheute ich sie.

Ein Verdrängungsmechanismus

Ursula Lambrou, Autorin des Buchs Familienkrankheit Alkoholismus, bezeichnet diese Einteilung als Verdrängungsmechanismus. Das, was Kinder am süchtigen Elternteil stört, schieben sie auf den Alkohol.

Das ist vermutlich auch der Grund, warum die Beziehung zu meiner Mutter trotz ihrer anhaltenden Trockenheit viele Jahre später komplett aus den Fugen geriet. Ich schwankte jahrelang zwischen der absoluten Idealisierung meiner Mutter und der Verteufelung der Anderen gefangen. Erst durch ihre Trockenheit lernte ich, dass sich nicht all unsere Probleme auf die Sucht schieben lassen.

Ich wurde zum ersten Mal damit konfrontiert, dass meine Mutter ein vielschichtiger Mensch mit guten und schlechten Eigenschaften ist. Es war eine Herausforderung, mein Bild von ihr komplett neu zusammenzusetzen.

Doch die Trockenheit meiner Mutter brachte ein noch viel größeres Problem zutage: Die suchtbedingt entstandenen familiären Muster hörten nicht einfach auf. Die durch die Sucht angerichteten Schäden blieben weiterhin ein Tabuthema. Der Ausdruck negativer Gefühle war noch immer unerwünscht und auch die Rollen in unserer kleinen Familie blieben verdreht.

Mein Vertrauen war bis auf die Grundmauern zerstört. Und durch die noch immer aktiven Gesetze der Familienkrankheit Sucht konnte es auch nicht wieder aufgebaut werden. Auch heute noch, nach jahrelang anhaltender Trockenheit, gelingt es mir nicht, mich aus meiner Hab-Acht-Stellung zu lösen.

Unsere Probleme lösten sich also nicht durch die Trockenheit meiner Mutter. Ihre Trockenheit zeigte nur, dass unsere wahren Probleme viel tiefer lagen.

Die Rolle des Umfelds

Geht es um die Liebe zum trinkenden Elternteil, spielt auch das Umfeld eine bedeutende Rolle. Denn wenn die Eltern sich streiten, geraten die Kinder schnell in einen Loyalitätskonflikt.

Ergreifen sie Partei für das trinkende Elternteil, verlieren sie möglicherweise die Gunst des anderen. Der Liebesentzug kommt einem Todesurteil gleich. Die Kinder trauen sich deshalb womöglich nicht, ihre Zuneigung zu zeigen.

Doch es kann auch andersherum laufen: Mein Umfeld beispielsweise erwartete von mir stetiges Verständnis für die Situation meiner Mutter. Meine Wut auf sie wurde nicht gerne gesehen.

Ich sollte liebevoll und dankbar sein, denn andere Kinder hatten es ja viel schlimmer. Um den Abstrafungen meines Umfelds zu entgehen, versteckte ich deshalb meine ambivalenten Gefühle so gut wie möglich.

Süchtige Eltern: Die Kluft zwischen Liebe und Schmerz schließen

Die Liebe zum alkoholkranken Elternteil ist also eine komplexe Angelegenheit. Wenngleich es Parallelen geben mag, erlebt jedes Kind sie abhängig vom Umgang mit der Erkrankung vermutlich etwas anders.

Ich persönlich kann nicht anders, als meiner betrunkenen Mutter gegenüber bis heute eine tiefe Ablehnung zu empfinden. Für meine nüchterne Mutter wiederum fühle ich eine tiefe, wenngleich komplizierte Zuneigung.

Ihr Trockenwerden war eine notwendige, aber keinesfalls ausreichende Voraussetzung für tiefgreifende Veränderungen in der Dynamik der Familienkrankheit Alkoholismus.

Für die wahre Genesung muss weitaus mehr getan werden: alte Muster und Rollen müssen aufgebrochen und das komplexe Gefühlserleben der Kinder anerkannt und respektiert werden.

Nur so kann nach und nach die Kluft zwischen Liebe und Schmerz, die Kinder gegenüber ihrer alkoholkranken Eltern so oft empfinden, nach und nach geschlossen werden.


Welche Gefühle hegt ihr gegenüber eurer erkrankten Eltern? Habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht? Lasst es mich doch in den Kommentaren wissen!


Quellen

Lambrou, U. (2017): Unterdrückte Gefühl – das familiäre Beziehungsdrama. Familienkrankheit Alkoholismus: Im Sog der Abhängigkeit (6. Aufl.), (S.86 – 126). Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Loyalitätskonflikte: Klein, M. (2001). Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven. Suchttherapie, 2(3), 118–124.

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