Erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern sind alle gleich – zumindest, wenn man einer bestimmten Liste glauben schenkt. Ich spreche von Tony A.s Laundry List (was übersetzt so viel bedeutet wie lange Liste), die 14 Eigenschaften beschreibt, die erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern miteinander teilen.
Der Autor Tony A. fußt seine Liste auf den Beobachtungen, die er im Austausch mit anderen Betroffenen machte. Er nimmt an, dass Kinder aus alkoholkranken oder dysfunktionalen Familien durch ähnliche Erfahrungen geprägt werden – und dadurch auch ähnliche „Spleens“ entwickeln.
Tony A. selbst ist das Kind alkoholkranker Eltern und Mitbegründer der Selbsthilfeorganisation Adult Children of Alcoholics (ACA). Seine eigene Kindheit beschreibt Tony A. in seinem Buch The Laundry List: The ACoA Experience als „von Anfang an vom Wahnsinn eines Alkoholikerhaushalts geprägt“ (übrigens: wer nicht weiß, was ACoA bedeutet, sollte unbedingt meinen Instagram-Channel auschecken!).
Doch genug zum Hintergrund der Liste. Hier sind also die 14 Gemeinsamkeiten von Kindern alkoholkranker Eltern. Sie sind gespickt mit einigen Erklärungen, die ich Tony A.s Buch entnommen habe.
Die Laundry List von Tony A.
1. Wir wurden isoliert und entwickelten Angst vor Menschen und Autoritätspersonen.
Rede nicht darüber! Das ist ein Credo, das vielen von uns (erwachsenen) Kindern alkoholkranker Eltern bekannt vorkommen dürfte. Doch ein Nicht-Reden-Dürfen bedeutet immer auch ein Sich-Nicht-Mitteilen-Können – und das schottet Kinder von der Außenwelt ab.
Doch nicht nur das: Durch die negativen Erfahrungen, die Kinder mit ihren ersten und wichtigsten Bezugspersonen machen, entwickeln sie laut Tony A. gleichzeitig eine tiefe Angst vor Autoritätspersonen. Wie Angehörige betroffene Kinder bei diesen Problemen unterstützen können, erfahrt ihr übrigens hier.
2. Wir suchten nach Anerkennung und verloren dabei unsere Identität.
Im Verlauf seiner Kindheit entwickelte Tony A. feine Antennen für die Stimmungen seines Vaters. Denn mit den passenden, erwünschten Verhaltensweisen konnte er den Wutausbrüchen seines Vaters entkommen. Diese Verhaltensweisen gingen ihm, genauso wie anderen erwachsenen Kindern alkoholabhängiger Eltern mit denen er sprach, in Fleisch und Blut über – so tief, dass er aus dem Blick verlor, wer er war.
3. Wir haben Angst vor wütenden Menschen und Kritik an uns
Alkoholabhängige Menschen verhalten sich unberechenbar. Durch die plötzlichen Wutausbrüche, begleitet von Beleidigungen und Abwertungen, haben wir Kinder alkoholkranker Eltern laut Tony A. selbst im Erwachsenenalter noch Angst vor wütenden Menschen und persönlicher Kritik.
4. Entweder werden wir zu Alkoholikern bzw. Alkoholikerinnen, heiraten sie oder beides, oder wir suchen uns eine andere zwanghafte Persönlichkeit, z. B. einen Workaholic, um unser krankes Bedürfnis nach Zurückweisung zu befriedigen.
Wir erwachsene Kinder von alkoholabhängigen Eltern entwickeln oft selbst ein Substanzproblem. Oder es zieht uns auf fast magische Weise immer wieder zu abhängigen Lebenspartnern bzw. Lebenspartnerinnen. Im schlimmsten Fall machen wir einfach beides. Doch es gibt Hoffnung: Erwachsene Kinder können aus diesem Sucht-Kreislauf ausbrechen.
5. Wir leben das Leben aus der Opferperspektive und fühlen uns von dieser Schwäche in unseren Liebes- und Freundschaftsbeziehungen angezogen.
Wir Kinder alkoholkranker Eltern waren in unserer Kindheit hilflos der Willkür unserer Eltern ausgesetzt. Doch selbst als handlungsfähige Erwachsene verharren wir laut Tony A. weiterhin in einer Opferrolle. Dadurch identifizieren wir uns mit Menschen in ähnlichen Rollen und gehen Freundschaften und Liebesbeziehungen mit ihnen ein.
6. Wir haben ein überentwickeltes Verantwortungsgefühl und es fällt uns leichter, uns mit anderen zu beschäftigen als mit uns selbst; das ermöglicht es uns, unsere eigenen Fehler usw. nicht allzu genau zu betrachten.
Wir erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern übernehmen gerne Verantwortung. Naja, zumindest solange es für Andere ist. Denn dadurch fühlen wir uns laut Tony A. gebraucht, gewollt, unverzichtbar und wichtig. Viel wichtiger noch: Es erlaubt uns, den Fokus von uns selbst zu wenden, sich nicht auf die eigenen Gefühle konzentrieren zu müssen, kurzum: sich nicht um sich selbst kümmern zu müssen. Doch wer einen Großteil seiner Energie auf Andere verwendet, beraubt sich gleichzeitig der Möglichkeit, sie auf sich zu verwenden und das eigene (oft ziemlich angeschlagene) Wohlbefinden und Selbstwertgefühl zu stärken.
7. Wir bekommen Schuldgefühle, wenn wir für uns selbst einstehen, statt nachzugeben.
Fällt es euch schwer, Nein zu sagen? Wenn man Tony A. Glauben schenkt, plagen uns erwachsene Kinder von alkoholabhängigen Eltern dabei nämlich ziemlich schnell Schuldgefühle. Er führt das darauf zurück, dass die Bedürfnisse und Wünsche von uns in unserer Kindheit keine, oder nur eine zweitrangige Rolle spielten.
8. Wir wurden süchtig nach Aufregung.
Wir erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern kommen laut Tony A. nicht gut mit Normalität – oder, Gott bewahre, Langeweile – im Alltag zurecht. Nur in Zeiten der Krise kommt unser Blut in Wallung. Wir fühlen uns lebendig, denn Krisen sind uns vertraut. Und Vertrautes mögen wir.
9. Wir verwechseln Liebe und Mitleid und neigen dazu, Menschen zu „lieben“, mit denen wir eigentlich „Mitleid“ haben und die wir „retten“ können.
Tony A. (der mittlerweile verstorben ist) fühlte sich zu seinen Lebzeiten von „dem tiefen, verwirrten Kummer in anderen Menschen“ angezogen und verspürte den tiefen Wunsch, diese Menschen zu retten. Diesen Impuls erklärte er damit, dass er als Kind seinen Eltern gegenüber neben Liebe auch Mitleid empfand. Wie andere erwachsene Kinder von alkoholkranken Eltern, habe er deshalb aufpassen müssen, die Gefühle Mitleid und Zuneigung nicht miteinander zu verwechseln.
10. Wir haben die Gefühle aus unserer traumatischen Kindheit „weggestopft“ und die Fähigkeit verloren, unsere Gefühle zu fühlen oder auszudrücken, weil es so weh tut (Verleugnung).
Die Bedürfnisse und Gefühle von uns Kindern alkoholkranker Eltern werden oft übergangen. Wir lernen, unsere Gefühle zu unterdrücken. Wir müssen unsere Gefühle unterdrücken. Diese Bewältigungsstrategie wird noch im Erwachsenenalter fortgesetzt. Negative Gefühle werden als lästig empfunden und einfach weggeschoben. Dieser einst notwendige Mechanismus ist heute jedoch dysfunktional. Denn Gefühle – auch die negativen – sind da, um gehört zu werden. Sie wollen uns etwas mitteilen und uns schützen. Wer sie konstant ignoriert, wird im schlimmsten Fall krank.
11. Wir urteilen hart über uns selbst und haben ein sehr geringes Selbstwertgefühl.
Alkoholabhängige Personen sagen im Vollrausch schlimme Dinge. Auch physische Gewalt wird eingesetzt, um den eigenen Standpunkt deutlich zu machen. Doch mit oder ohne Gewalt, eine Sache lernen wir Kinder alkoholabhängiger Eltern auf jeden Fall: Der Alkohol ist wichtiger als ich. Viele erwachsene Kinder können deshalb nur hartherzig mit sich selbst umgehen. Ein gesundes Selbstwertgefühl? Fehlanzeige.
12. Wir sind abhängige Persönlichkeiten, die Angst vor dem Verlassenwerden haben und alles tun, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Damit vermeiden wir, schmerzhafte Gefühle des Verlassenwerdens zu erleben, die wir früher durch das Leben mit kranken Menschen erleben mussten, die emotional nie für uns da waren.
Substanzabhängige Eltern können emotional nicht konsistent für Andere da sein. Sie können es ja nicht einmal für sich selbst. Doch das kindliche Gehirn versteht nicht, dass die eigenen Eltern krank sind und fühlt sich zurückgewiesen. Selbst im Erwachsenenalter versuchen wir laut Tony A. alles, um die alten Gefühle der Leere, des Verlusts und der Ablehnung zu vermeiden. Die Vorstellung, verlassen zu werden? Der blanke Horror. Gepaart wird diese Angst mit der nagenden Frage: „Was stimmt bloß nicht mit mir?“
13. Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, und wir wurden zu Co-Abhängigen und nahmen die Merkmale dieser Krankheit an, obwohl wir nicht zum Alkohol griffen.
Wenn ein Familienmitglied unter einer Alkoholabhängigkeit leidet, sind alle im Haushalt lebenden Personen davon betroffen. Wir Kinder werden auf die ein oder andere Art verletzt und die meisten von uns tragen diese ungeheilten Wunden bis ins Erwachsenenalter mit sich. Die emotionalen Aspekte der Krankheit übertragen sich laut Tony A. auf uns Kinder und viele übernehmen bestimmte Merkmale der Erkrankung.
14. Co-abhängige Personen agieren nicht, sie reagieren.
Wir erwachsene Kinder alkoholkranker Eltern sind laut Tony A. oft anpassungsfähige Menschen mit einem sehr vagen zentralen Selbst. Denn in unserer Kindheit warteten wir auf die Signale unserer Eltern und reagierten dann darauf.
Das sicherte uns ein möglichst unbeschadetes (Über-)Leben.
Das Problem ist, dass wir dieses Reaktionsmuster laut Tony A. in unsere Erwachsenenwelt tragen. Wir erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern gehen im Zwischenmenschlichen den Weg des geringsten Widerstands. Wir suchen akzeptable Vorgehensweisen, um Anderen zu gefallen und sie zufriedenzustellen – oft auf Kosten der eigenen Bedürfnisse. Deshalb müssen wir lernen, unangenehme Gefühle und Forderungen zu verarbeiten, ohne direkt und automatisch darauf zu reagieren.
Die 14 Gemeinsamkeiten von Kindern alkoholkranker Eltern -absolute Wahrheit oder Humbug?
Kann man nun all diese 14 Gemeinsamkeiten unhinterfragt so stehen lassen? Schwierig. Einige Punkte von Tony A.s Laundry List lassen sich definitiv wissenschaftlich stützen. So ist beispielsweise bekannt, dass Kinder alkoholkranker Eltern ein vielfach höheres Risiko haben, selbst an einer Abhängigkeit zu erkranken.
Einige seiner Beobachtungen lassen sich zudem mit psychologischen Theorien erklären (unabhängig davon, ob sie im Zusammenhang mit elterlichem Substanzmissbrauch auch wissenschaftlich geprüft wurden). So ließen sich das Verharren in einer Opferrolle sowie die Bindung an Personen in einer solchen mit der Theorie der erlernten Hilflosigkeit und der Sozialen Identitätstheorie erklären.
Doch einige seiner Aussagen sind schlichtweg eins: persönliche Beobachtungen. Das heißt nicht, dass sie nicht stimmen. Aber ohne eine wissenschaftliche Prüfung dieser Aussagen wissen wir auch nicht, ob sie es tun.
Zudem kann man eine Menschengruppe nicht derart pauschalisieren. Nicht jede Aussage trifft in gleichem Ausmaß auf jedes erwachsene Kind von alkoholkranken Eltern zu. Es wird zum Beispiel nicht jedes Kind alkoholkranker Eltern unabbringlich selbst einmal substanzabhängig oder heiratet eine substanzabhängige Person (zum Glück!).
Man kann sich also mit Sicherheit darüber streiten, ob Tony A.s Aussagen immer zutreffend sind oder sich Menschen derart plakativ in eine Gruppe sortieren lassen. Doch ein Fünkchen Wahrheit lässt sich darin bestimmt finden. Und ich (als jemand, der sich immer als „irgendwie anders“ empfunden hat) finde, das hat auch etwas Tröstliches. Denn zusammen ist man weniger allein.
Quellen:
The Recovery Process in The Laundry List by Tony A. and Dan F.