Alles, was ich euch erzähle, ist eine Lüge. Oder könnte es zumindest sein. Denn die Forschung über Kinder alkoholabhängiger Eltern ist verhältnismäßig jung und oft nicht repräsentativ.
Im ersten Teil meiner 3-teiligen Serie erkläre ich, was an der Forschung über Kinder suchtkranker Erwachsener problematisch ist, welches Wissen als gesichert gilt und welche Behauptungen völliger Quatsch sind.
Das Problem
Es ist seit geraumer Zeit bekannt, dass elterlicher Alkoholmissbrauch die (psychische) Entwicklung von Kindern gefährdet. Leider wird das Problem von der Fachöffentlichkeit bis heute oft ignoriert, besonders hier in Deutschland.
Das Thema erfuhr erst in den 70er-Jahren nennenswerte Aufmerksamkeit. Eine Menge der Forschung stammt aus den USA, deren Kultur der deutschen zwar ähnlich, aber nicht identisch ist. Die Erkenntnisse, die man aus diesen Studien ziehen kann, lassen sich möglicherweise nicht auf den deutschen Raum übertragen.
Provokant formuliert bedeutet das, dass die Forschungserkenntnisse, die ich auf diesem Blog mit euch teile, für uns irrelevant sein könnten. Realistischer ist, dass viel von dem Wissen aus amerikanischen Studien auf uns übertragbar ist, und sich in Nuancen unterscheidet.
Hier habe ich für euch zusammengefasst, was wir explizit über Kinder alkoholabhängiger Eltern in Deutschland wissen und was wir durch Untersuchungen aus anderen Ländern vermuten können.
Wie viele Kinder wachsen mit alkoholabhängigen Eltern auf?
Es gibt Schätzungen, dass in Deutschland derzeit etwa 2,65 Millionen minderjährige Kinder mit mindestens einem Elternteil zusammenleben, das alkoholabhängig oder -missbrauchend, d.h. Alkohol in gesundheitsschädlichem Maß konsumierend, ist. Einige aktuellere Untersuchungen gehen sogar davon aus, dass es insgesamt 5 bis 6 Millionen betroffene Kinder und junge Erwachsene unter 20 Jahren gibt, die mindestens einen Elternteil mit Alkoholproblemen haben. Die Situation betrifft also viele Familien in unserem Land.
Sind Kinder alkoholkranker Eltern suchtgefährdet?
Bereits in der Antike prägte Plutarch den Satz „Trinker zeugen Trinker“. Seine Beobachtung lässt sich empirisch bestätigen. Kinder alkoholabhängiger Eltern weisen insgesamt ein erhöhtes Risiko auf, im Verlauf ihres Lebens eine Suchtstörung zu entwickeln. Tatsächlich stuft man sie auf Basis von Forschungserkenntnissen als die größte suchtgefährdete und somit Hochrisikogruppe ein.
Was sind die häufigsten Erfahrungen, von denen Kinder alkoholkranker Eltern berichten?
In Spieltherapien, Interviews und Fragebogenstudien, die Forscher:innen mit Kindern alkoholkranker Eltern durchgeführt haben, bilden sich wiederkehrende Erfahrungen ab. Die Heranwachsenden berichten von einer instabilen familiären Situation und großen Konflikten zwischen den Eltern.
Das Verhalten der Eltern sei unberechenbar. Erziehungsmaßnahmen inkonsistent. An manchen Tagen werden die Kinder übermäßig verwöhnt, an anderen übermäßig bestraft. Viele berichten von starken ambivalenten Gefühlen gegenüber des betroffenen Elternteils und Loyalitätskonflikten. Manche denken, sie trügen die Schuld an der Sucht ihrer Eltern.
Wo Leben Kinder alkoholkranker Eltern?
Laut Zahlen der deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) aus dem Jahr 2021 haben etwa 56 Prozent der Personen, die sich in eine ambulante Behandlung begeben, Kinder. Diese müssen aber nicht zwangsläufig Zuhause wohnen. Manche Kinder sind fremduntergebracht oder bereits ausgezogen.
Fremdunterbringungen
Einer Übersichtarbeit von Klein zufolge lebten 2001 etwa 13 Prozent der betroffenen Heranwachsenden in Heimen oder bei Pflegeeltern. Die Anzahl der Fremdunterbringungen ist damit zwar höher als in der normalen Bevölkerung, aber deutlich geringer als bei Kindern drogenabhängiger Eltern. Dort werden auch Quoten von 50 Prozent und mehr erreicht.
Kinder, die mit suchtkranken Eltern zusammenleben
Besonders interessant ist die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die mit suchtkranken Eltern zusammenleben, da sie einer potenziellen dauerhaften Belastung ausgesetzt sind. Laut Zahlen der DSHS aus dem Jahr 2021 haben etwa 28 Prozent der Personen, die sich in ambulante Behandlung begeben, eigene minderjährige Kinder. Pro Haushalt leben im Schnitt 1,68 Unmündige. Volljährige im Haushalt lebende Kinder bleiben in der Statistik unberücksichtigt. Die Zahlen für Personen, die sich in stationäre Behandlung begeben, sind vergleichbar.
Hilfsangebote für Kinder alkoholkranker Eltern
Manchmal können Eltern ihre Kinder in Drogenentwöhnungseinrichtungen mitnehmen, vor allem, wenn diese sich im Vorschulalter befinden. Allerdings fallen die Kosten für die Mitnahme eines „Begleitkinds“ in der Regel hoch aus. Die Kinder werden zudem meistens nicht in die Behandlung miteinbezogen.
Auch präventive Angebote speziell für Kinder von suchtkranken Eltern in ambulanten Suchtberatungsstellen sind rar. Nach einer entsprechenden Erhebung bieten von insgesamt 1200 Beratungsstellen nur etwa 70 ein angemessenes präventives Angebot an. Das sind 5,8 Prozent.
Es gibt viele Hindernisse, die den Zugang zu präventiven und therapeutischen Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern erschweren. Zum einen erhalten normalerweise nur die Kinder Hilfe, von denen sich mindestens ein Elternteil in Beratung oder Behandlung begibt.
Zum anderen sind Eltern selbst dann oft nicht zugänglich für Hilfsangebote. Das kann verschiedene Gründe haben, darunter fehlende Krankheitseinsicht. Manchmal wird die Jugendhilfe als bedrohlich empfunden, es fehlt das Vertrauen in das Hilfesystem und auch die Vielzahl an Terminen stellt eine mögliche Herausforderung dar.
Insgesamt ist also anzunehmen, dass die große Mehrheit der Kinder suchtkranker Eltern keine passenden Hilfs- und Präventionsangebote erhält. Es besteht dringender Bedarf, diese Situation zu verbessern und mehr Unterstützung für diese Kinder und ihre Familien bereitzustellen.
Wie wirkt sich die elterliche Alkoholsucht auf die Gesundheit der Kinder aus?
Durch eine Vielzahl von Studien konnte festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche, die in Familien mit Suchtproblemen groß werden, ein erhöhtes Risiko haben, an verschiedenen psychischen Störungen zu erkranken. Neben späteren Suchtproblemen treten auch affektive Störungen, wie Depression, Angst- und im späteren Verlauf auch Persönlichkeitsstörungen gehäuft auf. Ebenfalls zu beobachten sind Störungen des Sozialverhaltens und der Aufmerksamkeit.
Eine eindrückliche Studie
In einer groß angelegten amerikanischen Gesundheitsstudie aus dem Jahr 1993 wurde untersucht, wie sich die Krankenhausaufenthalte von Kindern alkoholkranker Eltern im Vergleich zu Kindern aus Familien ohne Alkoholprobleme unterscheiden. Hierfür analysierten die Forscher:innen die Gesundheitsdaten von insgesamt 1,6 Millionen versicherten Personen über einen Zeitraum von drei Jahren.
Für die Studie untersuchte man die Anzahl stationärer Krankenhausaufenthalte von Kindern, deren Eltern aufgrund einer alkoholbezogenen Diagnose im Krankenhaus behandelt wurden. Es wurden Daten von 595 Kindern alkoholkranker Eltern gesammelt und mit den Daten von 633 Kindern ohne alkoholkranken Elternteil verglichen.
Die Ergebnisse zeigten, dass die Risikogruppe, also Kinder alkoholkranker Eltern, 24,3 Prozent mehr Krankenhausaufenthalte hatte als die Kontrollgruppe. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer war sogar um 61,7 Prozent länger.
Die Risikokinder wurden 1,5-mal häufiger aufgrund von psychischen Störungen, insbesondere depressive Reaktionen, im Krankenhaus behandelt als die Kinder in der Kontrollgruppe. Der Unterschied für Substanzmissbrauch war mehr als doppelt so hoch. Auch bei Verletzungen und Vergiftungen war die Aufnahmequote für die Risikokinder um 1,25-mal höher als für die Kinder in der Kontrollgruppe.
„Alle Kinder alkoholkranker Eltern sind zum Scheitern Verurteilt!“
Diese Aussage ist völliger Quatsch! Im Gegenteil: Etwa jedes 3. Kind bleibt trotz der schwierigen Situation in seinem Elternhaus psychisch gesund und stark. Dieses Phänomen wird als Resilienz oder Stressresistenz bezeichnet und zeigt, dass wir Kinder trotz allem erstaunlich anpassungsfähig sind und auch in schwierigen Situationen Widerstandskraft entwickeln können.
Ein Schlusswort
Insgesamt verdeutlicht die Forschung über Kinder alkoholkranker Eltern die komplexe und herausfordernde Situation, mit der die Heranwachsenden konfrontiert sind. Die Zahl der betroffenen Kinder in Deutschland ist alarmierend hoch, und die Auswirkungen der elterlichen Alkoholsucht können sich vielfältig und langfristig auf ihre Gesundheit und Entwicklung auswirken.
Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass nicht alle Kinder aus solchen Familien zwangsläufig dem gleichen Schicksal ausgeliefert sind. Resilienz ist ein bemerkenswertes Phänomen, das zeigt, dass Kinder trotz schwieriger Umstände eine innere Stärke entwickeln können.
Dennoch ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir als Gesellschaft mehr tun, um unterstützende Angebote und Präventionsmaßnahmen für diese Kinder bereitzustellen. Eine gründliche, repräsentative Forschung im deutschen Kontext ist dringend notwendig, um ihre Bedürfnisse noch besser zu verstehen und gezielte Hilfe anzubieten, damit sie eine gesunde und erfolgreiche Zukunft aufbauen können.
Welche Info überrascht euch am meisten? Und habt ihr Ideen, wie wir das Bewusstsein für die Herausforderungen, denen Kinder alkoholabhängiger Eltern gegenüberstehen, stärken können? Lasst es mich doch in den Kommentaren wissen!
Quellen
Das Problem, Suchtgefährdung, häufige Erfahrungen, Fremdunterbringung & psychische Gesundheit: Klein, M. (2001). Kinder aus alkoholbelasteten Familien – Ein Überblick zu Forschungsergebnissen und Handlungsperspektiven. Suchttherapie, 2(3), 118–124.
Wohnort von Kindern alkoholabhängiger Eltern: Schwarzkopf, L., Künzel, J., Murawski, M. & Specht, S. Suchthilfe in Deutschland 2021: Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS). Institut für Therapieforschung.
Hilfsangebote: Wiegand-Grefe, S., Klein, M., Kölch, M., Lenz, A., Seckinger, M., Thomasius, R. & Ziegenhain, U. (2019). Kinder psychisch kranker Eltern „Forschung“: IST-Analyse zur Situation von Kindern psychisch kranker Eltern.
Betroffene & Resilienz: Ruths, S., Moesgen, D., Bröning, S., Schaunig-Busch, I., Klein, M. & Thomasius, R. (2013). Präventive Gruppenangebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien – eine bundesweite Bestandsaufnahme. Suchttherapie, 14(01), 22–28.