Warum Kinder alkoholkranker Eltern gezwungen sind, Partei zu ergreifen – und das gleich 2 Mal

Als mir meine Mutter 2005 offenbarte, dass sie ‚ein kleines Alkoholproblem‘ hat, paarte sie ihre Aussage direkt im Anschluss an eine Aufforderung: Das darfst du niemandem erzählen!

Niemandem. Das Wort hallte in meinem Kopf nach.

Ihre Bitte brachte mich in ein unsagbares Dilemma. Es ging mir dreckig. Eigentlich wünschte ich mir sehnlichst, mich jemandem anvertrauen zu können, doch das käme einem Verrat an meiner Mutter gleich.

Meine Erfahrung scheint dabei kein Einzelfall zu sein. Die Selbsthilfe-Literatur für Kinder alkoholkranker Eltern betont, dass diese allzu oft gezwungen sind, in irgendeiner Form Partei für ihre Eltern ergreifen zu müssen.

Was sind Loyalitätskonflikte

Wir alle empfinden bestimmten Personen oder ganzen sozialen Gruppen gegenüber ein Gefühl der Treue. In den meisten Fällen steht diese Loyalität gegenüber verschiedenen Menschen nicht im Widerspruch zueinander.

Manchmal weichen die Interessen der Personen jedoch voneinander ab. Dadurch fühlen wir uns eventuell gezwungen, uns für eine Seite entscheiden zu müssen.

Wir geraten in einen Loyalitätskonflikt.

Ein Beispiel: Die Loyalität gegenüber unseres Geschäftspartners kann zu familiären Konflikten führen, wenn wir dadurch zu viel Zeit auf der Arbeit verbringen.

Die Auflösung eines solchen Konflikts ist ein Drahtseilakt und erfordert viel Fingerspitzengefühl. Umso schlimmer ist es, dass gerade Kinder häufig in die Zwangslage kommen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.

Die Forschung untersucht mögliche Auswirkungen solcher Loyalitätskonflikte überwiegend an Scheidungskindern. Doch in der Literatur für Kinder alkoholkranker Eltern wird oft behauptet, dass auch wir von dem Thema betroffen sind.

Obwohl es meines Wissens nach keine Studie gibt, die diese Behauptung untersucht, gibt es gute Argumente, die dafür sprechen.

Warum Kinder alkoholkranker Eltern in einen Loyalitätskonflikt geraten könnten

Amato & Afifi kommen nach der Durchführung ihrer Studie im Jahr 2006 zum Schluss, dass besonders Kinder mit Eltern in konfliktreichen Ehen das Gefühl haben, zwischen den Stühlen zu stehen.

Auch in einer Untersuchung von Baker & Eichler, die 2014 Studierende bezüglich möglicher Loyalitätskonflikte in der Kindheit befragte, berichteten besonders Personen mit getrennten, geschiedenen sowie unglücklich liierten Eltern von den aversiven Erfahrungen.

Da Ehekonflikte bei alkoholabhängigen Personen häufig vorkommen, liegt also der Schluss nahe, dass auch Kinder alkoholkranker Eltern von Loyalitätskonflikten betroffen sind – und das auf gleich 2 Ebenen.

Einerseits werden sie womöglich direkt oder indirekt dazu aufgefordert, sich zwischen ihren Eltern zu entscheiden.

Zusätzlich dazu dürfen sie sich auch niemandem außerhalb der Familie anvertrauen. Denn sich Freund:innen, Lehrer:innen oder gar Sozialarbeiter:innen mitzuteilen, wird mit Treuelosigkeit gleichgesetzt.

Somit stehen Kinder alkoholkranker Eltern nicht nur zwischen den Stühlen, sondern mit ihren schmerzhaften Gefühlen auch völlig allein da.

Die Folgen von Elterlichem Streit uNd einem Loyalitätskonflikt

Kinder, die im hohen Maß elterlichen Konflikten ausgesetzt sind, stehen unter erhöhtem Risiko, eine Reihe von Verhaltens- und emotionalen Problemen zu entwickeln – sowohl in der Kindheit, als auch später im Leben.

Es ist dabei nicht einfach das Ausmaß des elterlichen Konflikts, das Kinder und Jugendliche zu beeinträchtigen scheint, sondern vielmehr das Ausmaß, in dem sie in den elterlichen Konflikt hineingezogen werden.

So berichten Scheidungskinder, die sich zwischen dem Konflikt ihrer Eltern gefangen fühlen, von mehr Problemen als Scheidungskinder, die sich nicht gefangen fühlen. (Quelle für Abschnitt)

Kinder, deren Eltern viel streiten und die somit eher in einen Loyalitätskonflikt geraten, leiden demnach häufiger unter:

  • einem geringeren subjektives Wohlbefinden
  • einer schlechteren Eltern-Kind-Beziehung
  • höheren Depressionswerten
  • mehr Angst-Symptomen

Zudem neigen sie im Jugend- und Erwachsenenalter eher dazu, sich ihren Partner:innen gegenüber missbräuchlich zu verhalten und weisen eine höhere Scheidungsrate auf.

Elterliche Handlungen, die die Beziehung zum anderen Elternteil schädigen sollen und im schlimmsten Fall zu einer starken Ablehnung des Kindes ihm gegenüber führen, stehen zudem zusätzlich im Zusammenhang mit:

  • einem generell erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen
  • einem geringeren Selbstwertgefühl
  • einer geringeren Eigenständigkeit
  • einem höheren Alkohol und Drogenkonsum,
  • unsicherem Bindungsverhalten,
  • geringerer Lebensqualität,
  • Gefühle von Verlust, Verlassenheit und Schuld
Das Schweigen brechen

Kinder alkoholkranker Eltern können also auf 2 Arten in Loyalitätskonflikte kommen: einerseits indem sie zwischen die Fronten der elterlichen Konflikte geraten und andererseits dadurch, dass sie niemandem von der elterlichen Sucht erzählen dürfen.

Durch elterliche Konflikte und damit einhergehende Loyalitätskonflikte steigt für Kinder dabei das Risiko, früher oder später mit psychischen Problemen zu kämpfen.

Für mich persönlich half nur ein Weg aus diesem Dilemma: Ich brach mein Schweigen und teilte mich einer guten Freundin mit. Die Bürde, das Geheimnis meiner Mutter allein zu tragen, war einfach zu groß.

Noch heute bin ich glücklich darüber, diese Entscheidung getroffen zu haben.

Auch wenn ich dennoch meine Päckchen zu tragen habe, ebnete meine Entscheidung den Weg für die Erfahrung, dass es keinesfalls Verrat ist, sich jemandem mitzuteilen.

Das wiederum machte es mir leichter, mich anderen zu öffnen und Hilfe anzunehmen. Es befreite mich aus meiner Isolation.

Mit Sicherheit wäre alles noch viel schlimmer gekommen, wenn ich keine Unterstützung an meiner Seite gehabt hätte. Ich kann diesen Text also nur mit einer Aufforderung beenden und diese lautet:

Das solltest du unbedingt jemandem erzählen!


Seid ihr in eurer Kindheit in einen Loyalitätskonflikt geraten? Wenn ja, wie war diese Erfahrung für euch? Lasst es mich in den Kommentaren wissen!


 

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